Die Macht zurückgewinnen

Zukunftsforscher Klaus Burmeister ist sich sicher: Die Fußgängerzone ist ein Modell der Vergangenheit. Die Stadt, Händler und Immobilienbesitzer müssten jetzt die Zukunft gestalten. Doch wie kann die aussehen? Und ist Gelsenkirchen bereit dazu? von Tobias Hauswurz

Bahhofstraße, Samstagnachmittag. Wer vom Neumarkt aus die Bahnhofstraße hinunterblickt, schaut auf eine wuselige Menschenmasse. Mütter und Väter, mit noch mehr Primarktüten als Kindern an der Hand; fusselbarttragende Jungsgruppen, die sich gegenseitig ihrer Coolness versichern; Mädchengruppen, die sich kichernd WhatsApps auf ihren riesigen Smartphone-Displays zeigen; Rentner, die nach dem Arztbesuch noch Besorgungen machen; Funktionsjackenpärchen, die „noch mal schnell bei Tchibo gucken“; ältere Herren, die vor dem SB-Bäcker über dies und das diskutieren. Kurz: Wer am Samstagnachmittag vom Neumarkt aus die Bahnhofstraße hinunterblickt, sieht erst mal keinen Niedergang, sondern eine gut besuchte Fußgängerzone, wie es sie in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten zu Hauf gibt. Dieses Bild im Hinterkopf, wirkt das, was der Zukunftsforscher Klaus Burmeister sagt, wie eine steile These: Die klassische Einkaufsmeile habe ausgedient.


Es sei an der Zeit, die Innenstadt der Zukunft zu gestalten. Burmeister beschäftigt sich schon lange mit der Zukunft. Anfang der 90er baute er in Gelsenkirchen das Sekretariat für Zukunftsforschung mit auf, heute lebt und arbeitet er in Berlin, leitet das foresightlab und ist seit 2016 Vorsitzender der Initiative „D2030 – Deutschland neu denken“. Der gemeinnützige Verein will erreichen, dass Politik und Gesellschaft langfristig denken, Zukunfts- Foto: Ralf Nattermann lokal 6 perspektiven für alle entfalten und dafür einen unabhängigen und breiten Zukunftsdiskurs führen. Nicht nur, aber auch über Innenstädte. „Die Innenstadt darf nicht mehr nur Einkaufsstätte sein, bestimmt durch Kommerz. Wir müssen sie wieder zu einem lebendigen Zentrum machen, zu einem Ort des Verweilens. Ein Ort für Wohnen, für moderne Formen der Arbeit, für Dienstleistungen.“ Gastronomie, Kindergärten, Co-Working-Spaces, Sportstätten, Kultur. All das müsse wieder viel mehr Platz in den Innenstädten finden. „Ich gehe davon aus, dass die Innenstadt so wie wir sie kennen, auf Dauer keinen Bestand hat.“

Doch warum die Bahnhofstraße neu denken, wenn sie augenscheinlich noch gut funktioniert? Dafür lohnt es sich, den Blick nicht nur oberflächlich schweifen zu lassen. Wer genauer hinschaut merkt: Während der Abschnitt zwischen Arminstraße und Weka-Karree vergleichsweise stabil ist, franst es an den Rändern zunehmend aus. Vor allem in den Seitenarmen und an den Enden der Bahnhofstraße findet sich der allenthalben beschrieene Leerstand – oder er füllt sich zunehmend häufiger mit Dönerbuden, Wettbüros und Friseuren. Oder mit Billiganbietern: Die Gelsenkirchener City bietet im Umkreis von 500 Metern drei „Tedis“, der dritte „Lecker Lecker“ zwischen Hauptbahnhof und Neumarkt hat die „Mayersche“ beerbt. Die Entwicklung ist vor allem ein Zeichen fehlender Kaufkraft. Das weiß auch Michael Karutz. Der Einzelhandelsgutachter arbeitet seit 2015 bei der Stadt Gelsenkirchen. Sein erstes Gutachten über die Bahnhofstraße hat er bereits 1998 geschrieben. „Die Frequenz auf der Bahnhofstraße ist für ein Mittelzentrum wie Gelsenkirchen nach wie vor gut“, sagt Karutz. „Vor allem wenn man bedenkt, dass Gelsenkirchen im Ruhrgebiet liegt, und kein plattes Land drumherum als Einzugsgebiet hat.“ Aber die Kaufkraft in der Innenstadt liegt fast ein Viertel unter dem Bundesschnitt. „Das zieht natürlich bestimmte Einzelhandelsunternehmen an.“

Und vertreibt andere. Vor allem der inhabergeführte Einzelhandel steht unter Druck, weiß Dr. Christopher Schmitt, Stadrat und oberster Wirtschaftsförderer von Gelsenkirchen: „Auf der Bahnhofstraße sind große Ketten nach wie vor stark vertreten.“ – „Konsumige Filialisten“ nennt er sie, Mainstreamketten für die breite Masse, die zwar viele Menschen anziehen, die es aber auch in jeder vergleichbaren Innenstadt gibt. „In dem Segment können wir immer noch zufrieden sein“, sagt Schmitt. Doch die inhabergeführten Läden haben sich nach und nach verabschiedet. Nur wenige halten tapfer durch. Ein Phänomen, das Gelsenkirchen natürlich nicht exklusiv hat. „Wir sind damit nicht alleine, viele Städte um uns herum kennen das“, sagt Schmitt. Über die Abwanderung der eh schon geringen Kaufkraft ins Internet wurde an anderer Stelle bereits genug geschrieben. Dass sich dieser Wandel aufhalten lässt, glaubt mittlerweile kaum noch ein Experte. Nicht nur an den Rändern, auch abends zeigt sich ein anderes Bild als am Samstagnachmittag. Die Bahnhofstraße verwandelt sich nach Ladenschluss in eine tote Straßenschlucht. Nach den Lebenszeichen einer Großstadt sucht man dann vergebens. Auch das ist in vielen anderen Fußgängerzonen so – und wenn es nach Klaus Burmeister geht, auch dort nicht mehr zeitgemäß.

Nichtsdestotrotz: „Wir bleiben nach wie vor ein Verfechter des europäischen Innenstadtmodells“, sagt Dr. Christopher Schmitt und meint damit die klassisches Fußgängerzone. Dass sich das Modell hier und da wandeln wird, glaubt er aber auch. Die Stadt will sich in Zukunft vor allem darauf konzentrieren, die Randlagen weiter zu entwickeln. Aber bitte nicht zu viel Veränderung auf einmal. Mitte Juni wäre die Stadt beinahe zu einschneidenden Veränderungen gezwungen gewesen. Die Warenhauskette Karstadt Kaufhof wankt, will bundesweit 62 Filialen schließen. Nach anfänglichem Hin und Her ist die Freude in Gelsenkirchen schließlich groß: Kaufhof bleibt. Ihm seien Wackersteine von der Brust gefallen, wird der Leiter der Gelsenkirchener Wirtschaftsförderung, Rainer Schiffkowski, damals in der Gelsenkirchener WAZ zitiert. Oberbürgermeister Frank Baranowski sieht in der Kaufhof-Entscheidung eine wirklich gute Nachricht für die Gelsenkirchener City. – Kurzfristig mag das stimmen. Aber langfristig? „Wenn Kommunalpolitiker heute noch nicht erkannt haben, dass das Konzept des Kaufhauses nicht mehr funktioniert, haben sie etwas verschlafen“, sagt Klaus Burmeister. „Das Kaufhaus ist eine Erfindung des letzten Jahrhunderts, es sollte die ganze Warenvielfalt abbilden. Das passiert heute viel besser im Internet.“ Er spüre beim Thema Kaufhäuser aber die Ohnmacht der Politik. Der Gedanke: Solange das Kaufhaus da ist, sei zumindest eine gewisse Attraktivität gegeben. „Etwas neu zu denken, bedeutet immer Anstrengung. Das ist natürlich, neben den vielen anderen Dingen, die eine Stadt zu tun hat, eine große Aufgabe.“ Doch Gelsenkirchen wird nicht drumherum kommen. Wann der Kaufhof auf der Bahnhofstraße dann doch dicht macht, ist wohl nur eine Frage der Zeit. Wäre es nicht besser, dann schon ein neues Konzept in der Tasche zu haben?

Zwei, die offen für Veränderung sind, sitzen in einem Büro, das den Charme vergangener Tage versprüht. Der Blick geht raus auf die Lohfeldstraße und den Kurt- Neuwald-Platz. Hinterhofgaragen, Wettbüro, Spielothek, Hörgeräte. Abgefärbt hat das auf die beiden Insassen nicht. City-Managerin Angela Bartelt und Roman Schmitz, Inhaber des Modehauses, das seinen Namen trägt und Vorsitzender der Gelsenkirchener City Initiative, glauben fest daran, dass sich etwas verändern muss. „Handel ist Wandel“, sagt Roman Schmitz, „das ist ein alter Spruch, aber der bewahrheitet sich immer wieder.“ Er ist sich sicher, dass der Mix in der Innenstadt ein anderer werden wird, weg von großen Einzelhandelsflächen zu kleinteiligeren Angeboten. Dadurch würden dann Flächen frei, die man anderweitig nutzen könne. „Ich gehe vielleicht in Zukunft nicht mehr nur zum Shoppen in die City, sondern auch, um etwas zu erleben, vielleicht auch mal wieder einen handwerklichen Betrieb aufzusuchen, oder für ein Event.“ Schmitz will Ideen und Entwicklungen aufgreifen, experimentieren, mutig sein.

Als Gelsenkirchen noch die „Stadt der 1000 Feuer” war, herrschte auch auf der Bahnhofstraße eine ganz andere Form von Leben. Die klassischen Kaufhäuser standen in voller Blüte und begeisterten die Massen auch schon mal durch attraktive Aktionen, hier etwa 1958 mit Elefanten des Zirkus Althoff als Werbeträger vor dem Haupteingang des Westfalen-Kaufhauses (Weka). Foto: © Institut für Stadtgeschichte, Kurt Müller, 1958

Angela Bartelt erklärt, was damit gemeint sein könnte: „Die Gastronomie fördern und weiter ausbauen, Start-Ups in die Innenstadt holen, Co-Working-Räume schaffen, Pop- Up-Stores eröffnen. Also kreative Ideen ansiedeln, die es in anderen Städten nicht gibt.“ Außerdem die Innenstadt zu einem attraktiven Wohnort zu machen. Hauptziel müsse in Zusammenarbeit mit der Stadt sein, solche Impulse offensiv nach außen zu tragen. Ankommen müssen neue Ideen vor allem bei denen, die mit den Häusern und Einkaufsflächen an der Bahnhofstraße ihr Geld verdienen. Immobilienbesitzer gibt es laut Schmitz an der Bahnhofstraße viele verschiedene: Vom Seniorenehepaar über die Erbengemeinschaft bis hin zum großen Immobilienkonzern sei alles vertreten, sagt Schmitz. „Es braucht sicherlich noch viel Überzeugungsarbeit. Dinge, die Jahrzehnte eingefahren waren, wandeln sich jetzt.“ Als City-Managerin steht Angela Bartelt mit vielen Immobilienbesitzern in Kontakt. Viele seien mittlerweile offen für neue Ideen. „Aber jeder Eigentümer ist anders“, sagt Bartelt. Roman Schmitz ergänzt: „Die Immobiliengesellschaft mit Sitz München muss ich vielleicht ganz anders überzeugen, als den Privateigentümer, der die Entwicklung der Innenstadt jeden Tag sieht.“

Eine grundlegende Bereitschaft zur Veränderung spüren aber beide – genauso wie Dr. Christopher Schmitt. Auch wenn es hier und da noch schwierig ist, wie er zugibt: „Manchmal ballen wir die Faust in der Tasche, wenn Immobilienbesitzer nach wie vor meinen 50 Euro pro Quadratmeter für ihren Laden zu verlangen. Das entspricht nicht mehr den aktuellen Marktverhältnissen.“ Doch selbst, wenn auch der letzte Immobilienbesitzer reif für die Zukunft wäre: Es braucht dann noch die, die kluge Ideen nicht nur haben, sondern auch in Gelsenkirchen umsetzen wollen. Klaus Burmeister will den Akteuren Mut machen. Genug kreatives Potential gebe es in jeder Stadt. „Ich wüsste nicht, warum das in Gelsenkirchen anders sein sollte.“ Roman Schmitz sieht die Chance für Kreativität vor allem auch im vergleichsweise günstigen Mietniveau, abseits der 1ALagen zwischen Arminstraße und Weka- Karree. „Vielleicht müssen wir den Makel, dass es hier nicht so attraktiv erscheint umdrehen und sagen: Ihr müsst hier nicht so viel investieren, wie vielleicht in Düsseldorf oder sonst wo investieren müsst.“ Für die Zukunft könne das ein Pluspunkt sein, hofft Schmitz. „Es gibt auf jeden Fall willige, kreative Akteure, die derzeit schon Ideen für die Innenstadt entwickeln“, ergänzt Angela Bartelt. Spruchreif sei das aber noch nicht. Eine andere Gruppe von Akteuren ist in den letzten Jahren schon neu dazu gekommen und fällt immer mehr auf: Migranten nutzen die Chance, und eröffnen ihre Geschäfte in den Randbereichen der Innenstadt. Nicht nur viele Gastronomien, auch immer Möbel-, Bekleidungs- oder Haushaltswarengeschäfte entstehen, die sich speziell an eine migrantische Zielgruppe richten.

Besonders auffällig ist das zum Beispiel in der Weberstraße. Auch, wenn es dem ein oder anderen vielleicht nicht gefalle: Für Michael Karutz von der Stadt Gelsenkirchen haben diese Angebote eine Berechtigung. „Das ist ein Abbild der Realität in unserer Stadt. Diese Läden bedienen die Kundschaft, die hier lebt.“ Es sei aber wichtig, auch dort neue, positive Impulse zu setzen, die in Richtung einer Aufwertung gehen. Klaus Burmeister sieht in der migrantischen Wirtschaft eine große Chance für die Stadt. „Stadt ist Markt und schon immer gewesen. Der Markt war der Beginn von städtischem Leben. Markt heißt Austausch, kaufen, verkaufen, begegnen, kommunizieren.“ Dazu könnten Menschen mit Migrationshintergrund in besonderer Weise beitragen, auch, weil sie eine kulturelle Vielfalt reinbringen. „Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund, die ökonomisch aktiv sind, wächst immer weiter und ist ein ernstzunehmender Teil unserer Wirtschaft“, sagt er. Bei der Gelsenkirchener City Initiative gebe es jedenfalls keine Berührungsängste, sagt Angela Bartelt. „Wir stehen schon mit vielen in Kontakt und tauschen uns aus.“

Je tiefer man in das Thema Innenstadtentwicklung eindringt, desto klarer wird: Es ist ein hochkomplexes Zusammenspiel vieler Akteure und Faktoren. Den roten Faden aufzunehmen – das hat sich Gelsenkirchens neue Oberbürgermeisterin Karin Welge auf die Fahne geschrieben. Mit einer Innenstadtwerkstatt will sie alle Akteure an einen Tisch bringen und über die Entwicklung der Innenstadt sprechen. Für Klaus Burmeister ein Schritt in die richtige Richtung. „Die Probleme der Städte sind ja nicht durch die Oberbürgermeister oder die Stadtverwaltungen verschuldet. Große Filialkonzerne haben durch fehlende Innovationen die Innenstädte in eine missliche Lage gebracht.“ Aber er sagt auch: Die Städte hätten das viel zu lange geduldet und abgewartet, ihre Zentren Investoren und Eigentümern überlassen und dabei auch die Bedeutung der Innenstadt für die lokale Demokratie, für das Selbstverständnis einer Stadt, lange nicht wahrgenommen. Müssen die Städte also die Macht über ihre Zentren zurückgewinnen? „Ja, wir sind in einer Phase, in der sich viele Dinge die wir kennen, durch die Digitalisierung und jetzt auch noch durch Corona grundsätzlich verändern. In dieser Zeit brauchen wir Orte, wo Menschen nicht nur virtuell, sondern real zusammentreffen.“ Diese Orte zu schaffen, sei eine originäre Aufgabe der Stadt. Dr. Christopher Schmitt glaubt indes nicht so recht an die These, dass sich die Verwaltung zu lange rausgehalten habe. Die Stadt habe in der Vergangenheit mit vielen Entscheidungen dazu beigetragen, dass die Bahnhofstraße und die Innenstadt insgesamt heute noch vergleichsweise stabil dastehe. Beispielsweise habe der Stadtumbau in den letzten 25 Jahren für deutlich positive Impulse gesorgt. Außerdem habe man sich, entgegen des Trends in vielen Nachbarstädten, immer gegen ein konkurrierendes Einkaufszentrum in der Stadt gestellt. Doch etwas zu verhindern reicht in Zukunft vielleicht nicht mehr. Bei der Verwaltung brauche es ein Umdenken, glaubt Klaus Burmeister: „Wir müssen die Stadtverwaltung eher so denken, dass sie als Ermöglicher für neue Ansätze fungiert. Dafür muss sie ins Gespräch kommen, Aktivitäten entfalten, Kreative und die Stadtgesellschaft insgesamt zu Partnern machen.“ Wo sich der Zukunftsforscher und der Stadtrat auf jeden Fall einig sind: Es braucht einen langen Atem.

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