Die Spuren seines Lebens

Eine Kurzgeschichte von Romal Dell

Dieses „Erbe“ machte mich wehmütig und löste bei mir spontaEs war ein typisches Landhaus in einer typisch ländlich gelegenen Straße, irgendwo in Deutschland. Idyllischer Bau aus den Sechzigern, versteckt im Grünen der Bäume am Rande der Stadt. In einer solchen Gegend ist die Grenze vom Ländlichen hin zum Städtischen oft verwischt.

Eine ältere Frau öffnete uns die Tür. Sie war klein und hatte die Gesichtszüge einer guten Oma aus einem alten Märchen. Sie wirkte sehr freundlich und vertrauensvoll und war uns sofort sympathisch.

– „Sie kommen bestimmt wegen der Anzeige?“, sagte sie nach der üblichen Begrüßung und bat uns ins Haus hinein. – „Sie sind oben. Wir haben alles auf den Boden abgestellt, weil die Regale abgebaut werden mussten. Sie können alles haben.“

Wir stiegen die lange und steile Treppe hinauf und folgten der Frau bis zum letzten Stockwerk. Da blieb sie stehen und holte den Schlüssel aus der Tasche ihrer Schürze und steckte ihn ins Schlüsselloch. – „Hier war seine Wohnung“. – sagte sie. Die Tür ging auf und wir traten hinein…

Bücher. Ein Meer von Büchern. Dicke und dünne, kleine und große, teure und billige Ausgaben. Taschenbücher und gebundene Folianten. Lernbücher, Romane, methodische Literatur, Zeitschriften, Lexika und Ratgeber. Ich fühlte mich vom Umfang der Sammlung überwältigt. So viele Bücher, Berge von Büchern. Bücher überall. Er müsste …

„Mein Sohn war Lehrer“, hörte ich ihre Stimme neben mir, als hätte sie meine Gedanken erraten. Sie ließ sich nieder. „Manfred hat Deutsch und Religion unterrichtet. Er starb an Asthma vor dreizehn Jahren. Seitdem hat niemand mehr dieses Zimmer betreten. Dieses Jahr bin ich achtzig geworden. Meine Tochter will, dass ich jetzt bei ihr in Hamburg wohne. Wir haben das Haus deshalb vor kurzem verkauft. Nach Weihnachten bin ich aus dem Ruhrgebiet weg und komme nicht mehr hierher zurück. Die Bücher kann ich leider nicht mitnehmen. Meine Tochter lebt in einer kleinen Wohnung und hat selbst nicht so viel Platz. Ich habe es bis jetzt nicht geschafft, auch ein einziges davon zu berühren. Ich denke, er hätte nichts dagegen, wenn jemand seine Bücher bekommen würde. Wichtig ist nur, dass derjenige sich wirklich dafür interessiert und sie nicht gleich auf dem Flohmarkt für fünfzig Groschen verscherbelt. Ich brauche mich vor dem Manfred wegen dieser Entscheidung nicht zu schämen. Als Lehrer hätte er das sicher nur begrüßt. Nehmt euch ruhig alles, was euch gefällt. Ich bin in meinem Zimmer, wenn Sie mich brauchen.“

Sie ließ uns allein. Vor mir erstreckte sich ein Meer von Wissen. Ein Riesenschatz, von dem ich bisher nur hatte träumen können. Dieser Schatz gehörte jetzt uns allein. Ich beugte mich, griff wahllos in die Menge der Bücher und holte mir eine kleine Lektüre da raus. Es war „Antike Geschichte“ von Herodot. Ein dünnes graues Heft mit der Abbildung Babylonischer Tore auf dem Titelblatt. Unter anderen Umständen hätte ein solcher Fund mich früher grenzenlos glücklich gemacht, aber nachdem ich den Preis und den Hintergrund dieses „Glücks“ kannte, war meine Freude plötzlich dahin. Ich war traurig. Diese alte Frau und ihr verstorbener Sohn taten mir leid, obwohl ich diesen Mann nicht persönlich gekannt hatte. Erst seit wenigen Minuten wusste ich, dass er vor 13 Jahren gestorben war. In der Anzeige des städtischen Wochenblatts, auf das mich ein Bekannter aufmerksam gemacht hatte, stand nur: „Bibliothek wegen Haushaltsauflösung an Literaturinteressenten zu verschenken…“. Welches Schicksal sich dahinter verbarg, war aus diesen Zeilen nicht zu ersehen. Und mehr wusste ich im Grunde auch nicht.
n Schuldgefühle aus. Was ich jetzt so großzügig mitnehmen durfte, waren Dinge, die ihm wohl viel bedeutet hatten, ihm Lebensfreude geschenkt hatten und Spuren seiner vertrauten Welt und seines Lebens waren. Es war alles, was von ihm übrig blieb. Mit Ausnahme der Menschen, die sich an ihn erinnerten, ihn geliebt oder ihn persönlich gekannt hatten.

In diesen Augenblicken denkt man automatisch über das eigene Leben und die Unvermeidbarkeit des Todes nach. Und wenn man bedenkt, dass nichts in der Welt ewig und von Dauer ist, können die Bücher einen auch nicht mehr darüber hinwegtrösten. Alles ist vergänglich. Und alles stirbt. Man kann diesem Schicksal nicht entkommen. Alles was von ihm übrig blieb, sah man jetzt hier, auf 23 qm Wohnfläche verstreut.
Das war ein trauriges Bild. Dieses Zimmer voller Bücher, Einsamkeit und stiller Leere. Keine Freude der Welt, Bücher, Essen, Vergnügungen, Menschen und Luxusgüter können uns davor bewahren, eines Tages aus dem Leben zu verschwinden. Aufzuhören zu existieren. Nicht mehr da zu sein. Und alles, was dann noch bleibt, ist nur diese Spur aus Sachen, die wir geliebt und besessen haben. Und diese Sachen werden wir hier lassen müssen, weil wir ins Jenseits, soweit eins überhaupt existiert, nichts aus dem irdischen Leben mitnehmen können. Sie sind das letzte Zeugnis, dass es uns gab. Irgendwann mal. Und eine schwache Spur, die mit der Zeit nach und nach verblasst, bis sie ganz ausbleibt….

In diesem Zimmer lebte die Traurigkeit. Das Gefühl eines Lebens, das voller Träume und Sehnsüchte war und in der Blüte seiner Kraft plötzlich erlosch, so dass sie für immer unerfüllt blieben. Diese Schwermut und der Schmerz, die Nostalgie nach dem, was mit seinem Tod verloren ging, schwebten hier in der Luft und machten sich auch bei uns bemerkbar. Es war ein seltsames Gefühl. Obwohl er selber nicht mehr hier war, trug jeder einzelne Gegenstand dieser Einrichtung die Spuren seiner unsichtbaren Anwesenheit in sich. Wurde zu seinem Schatten und gab uns das Gefühl, dass er uns gerade beobachtete.
Plötzlich wollte ich wissen, was für ein Mensch dieser Manfred gewesen war. Welche Gedanken und Gefühle er hatte, wie er gelebt und geliebt hatte. Was sein Leben geprägt und bestimmt hatte. Alle Sachen und Dinge in diesem Raum waren ein Spiegelbild dessen, was ihm zu Lebzeiten einmal viel bedeutet hatte. Trugen Bilder und Informationen für die „Nachwelt“ in sich, waren Ergänzungen seines Portraits. Ein Lebensbild, das ich für mich, heute und jetzt, sehen wollte.

Ich begann in seinen Büchern zu stöbern. Sortierte sie nach Themen, Sprache und Interessen aus. Nach und nach erfuhr ich mehr und mehr von ihm. Zum Beispiel, dass er jung und wissbegierig gewesen war und Fächer wie Geschichte, Naturwissenschaft oder Kunst über alles geliebt hatte. Die Vielfalt an Titeln in dieser Sammlung ließ keine Zweifel daran. Und die Fremdsprachen. Er liebte Fremdsprachen und beherrschte sie auch. Latein, Englisch, Italienisch und Französisch. Er besaß viele Lektüren, Reiseführer und Wörterbücher in diesen Sprachen. Fast ein ganzes Regal allein für Latein.
Und religiös war er auch. Bücher, die er zu seinem persönlichen Thema gemacht hatte. Sie gingen über das übliche Maß eines Religionslehrers hinaus. Neben Bibeln, Katechismen und anderer Fachliteratur entdeckte ich viele wissenschaftlich-theologische Schriften, Lektüren über die Religionen der Welt, Sachbücher über den christlichen Glauben, den Islam, den Buddhismus und die Lehren des Judentums.

Politik, Weltfrieden, und das Leben außerhalb der westlichen Welt hatten ihn ebenfalls sehr interessiert. Er las offensichtlich gerne politische Biografien und Selbstzeugnisse großer Staatsmänner, glaubte an die „Perestroika“ von Gorbatschow, begeisterte sich für Weltabrüstung und soziales Engagement, liebte Geografie und interessierte sich für die östliche Kultur. Auch Kunst und Geschichte waren ihm nicht fremd. Noch mehr liebte er jedoch die deutsche und die Weltliteratur: Goethe, Schiller, Kafka, Borchert und Brecht. Er besaß jedes einzelne Buch von ihnen.

Auch „Liebe“ gab es in seinem Leben. Die Liebe und die Sehnsucht nach einer Frau. Er wünschte sich beides zu haben und wollte darüber genau Bescheid wissen. Wie man die Liebe auf Dauer erhält, wie eine Beziehung zwischen Mann und Frau funktioniert, was man als Paar beachten sollte. Schlaue Bücher, medizinische Bücher, Fachliteratur über weibliche und männliche Sexualität und Psychologie. Irgendwann einmal wollte er vielleicht auch einmal Kinder und eine Familie haben. Einen Ratgeber für junge Eltern, andere pädagogische Bücher hatte ich rechts abgestellt. Zusammen ergab sich daraus ein mittelgroßer Stapel in der Ecke des Zimmers. Große Stapel seiner nie in Erfüllung gegangenen Wünsche und Träume. Warum hat das Leben ihm nichts davon gegönnt? Steckten all diese Träume immer noch in diesem Turm aus Büchern? All die Hoffnungen und Pläne, die zusammen mit ihm starben? Was machte es für einen Sinn, dass ein Mensch wie er so jung sterben musste? Wo er doch so wenig vom Leben und dieser Welt mitbekommen hatte.

Nun sah ich ein Meer. Ein Meer von Büchern, das zum Sinnbild und zur Spur seines irdischen Lebens und seiner Existenz wurde. Aber die Antwort auf meine Frage gab dieses Meer hier nicht her. Ich musste rätseln und interpretieren.
Mit jedem neuen Buch, das jetzt in meinen Händen lag, hatte ich immer mehr das Gefühl, den Mann, diesen Menschen, der mir all das hier überlassen hatte, ein bisschen näher kennengelernt zu haben, zumindest einen Teil von ihm.

Die große Sehnsucht und das Streben nach Glück. Egal ob es sich dabei um Liebe, Hoffnung, Frieden oder Harmonie handelte. Vieles davon wird man ohnehin niemals in seinem Leben vollständig erreichen, aber das Streben danach ist der einzige Antrieb und Sinn. Das hat ihm sicher Kraft gegeben. Wir Menschen leben nun Mal von Liebe und Hoffnung.

Nachmittags waren wir mit dem Aussortieren und Beladen endlich fertig und wollten uns mit der ersten Bücherladung im Auto auf den Weg machen. Mein Freund holte schon sein Autoschlüssel aus der Tasche. Wir gingen nur kurz herunter, um der netten Hausherrin Bescheid zu sagen, dass wir noch ein oder zweimal kommen müssen. Die alte Dame bot uns sofort eine Tasse Kaffee und Spekulatius-Kekse an. Mein Freund lehnte höfflich ab und schlug mir vor, dass ich besser hier, bei der alten Oma bleibe und auf ihn warte, während er schnell die Bücher zu mir nach Hause wegbringt. Das würde uns nämlich mehr Platz im Auto verschaffen und unter Umständen die dritte Tour komplett einsparen. Er selbst hatte leider keine Zeit, weder für Kaffee noch für Kekse und sollte sich stattdessen eigentlich beeilen. Seine Spätschicht fing in 2 Stunden an.
Ich willigte ein. Er murmelte „Bis gleich“ und fuhr los.

Wir saßen in ihrem Wohnzimmer und unterhielten uns. Sie gab mir ein Album mit schwarzweißen Bildern, aus der Zeit als sie noch in Preußen lebten, kurz bevor „der Russe“ kam und sie vertrieb, und fragte bei mir von Zeit zurzeit nach, ob mich ihre Geschichte nicht langweilte. „Ich mag alte Bilder“, sagte ich. „Das Leben darauf wirkt so echt, nostalgisch und intensiv. Nicht so verfälscht oder künstlich wie unseres heute.“

-„Dann zeige ich Ihnen noch ein paar davon. Ich habe jede Menge davon hier. Und das hier ist übrigens mein Sohn“, sagte sie.- War mein Sohn- korrigierte sie sich sofort und reichte mir ein kleines Foto rüber. –„Hier ist er fünf.“

Ich betrachtete langsam dieses Bild. Das Kind, das dort abgebildet war, sah aus wie ein Junge, aus dem später ein berühmter Schriftsteller oder Dichter werden könnte. Er hatte lange goldene Locken und lachte: ansteckend, unschuldig und breit.

– Hier ist er achtunddreißig, kurz bevor die Krankheit ausbrach. – Sie gab mir ein neues Bild. Ich sah ein kleines farbiges Passfoto mit Fransen an den Rändern. Sein Gesicht. Dieselben Locken, aber jetzt schon kastanienbraun. Ein müder Blick, aber sehr schöne Augen. Gütige Augen. So viel Wärme und Liebe darin. Gleichzeitig aber auch etwas, ein Gefühl, als wollten diese Augen noch viel mehr, etwas Vertrautes sagen….

Ihre Stimme war ruhig, aber man sah ihr an, dass das Unglück vor dreizehn Jahren für sie immer noch gegenwärtig war, und dass sie darunter litt. Sehr litt. Als wäre sein Tod gestern und nicht vor dreizehn Jahren gewesen.
Ich trank weiter den Kaffee und wartete, bis mein Freund mit dem Wagen wiederkam. Dann luden wir den Rest auf. Bevor wir fuhren, verabschiedete ich mich noch einmal von ihr. Und sie schüttelte jedem von uns die Hand. Ich entdeckte seine Präsenz in ihren Gesichtszügen. Warum auch immer, der Schmerz dieser Frau war mir nicht fremd. Er nahm mich auch mit. Er ging auf mich über.

Ich fühlte mich plötzlich für diese Bücher verantwortlich. Persönlich verantwortlich. „Ich werde sie alle hüten und lesen, und das was da steht mir einprägen und weitergeben“ dachte ich mir.
Als der Wagen losfuhr, stand sie immer noch an der Schwelle und winkte uns so lange, bis die erste Kreuzung kam und sie gänzlich aus dem Blickfeld verschwand. All diese Zeit schaute ich diese alte, trauernde Frau an und winkte ebenfalls zurück. Ich wollte, dass sie weiß, dass die Bücher ihres Sohnes bei mir gut aufgehoben sind. Dass die Spuren seines Lebens bei mir nicht verloren gehen werden. Das ich seinen Nachlass würdig verwalten und behandeln werde. Diese Spuren seines Lebens, die ich jetzt fest in meiner Hand hielt…

ENDE

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