Der Letzte macht das Licht aus

 

 

 

Leerstand, Kaufkraft und Abwanderung in Gelsenkirchen

von Michael Voregger

Gelsenkirchen gilt als Einkaufsstadt, und in der Tat scheint die Bahnhofstraße immer gut besucht zu sein. Inzwischen werden sogar lang leerstehende Ladenlokale neu vermietet.

„Die TEDi-Filiale ist gut für die Hauptstraße und die Beseitigung des Leerstands ein weiterer Schritt der positiven Dynamik, die eine der schönsten Nebenlagen der Gelsenkirchener City im zurückliegenden Jahr entwickelt hat“, sagt SPD Landtagskandidat Sebastian Watermeier. „Dafür ist den Anliegern und der Stadtverwaltung Lob auszusprechen.“
Auch die ein paar Meter weiter eingezogene Filiale von Black.de gehört zur TEDi-Gruppe. Beide Geschäfte sind Discounter, die Sonderposten, billige China-Ware und Produkte von der Resterampe anbieten. Dabei gehört es zum Konzept, die Kunden mit großen Ständen im Außenbereich anzulocken. TEDi steht für „Top Euro Discount“, und es gibt 1.500 Filialen in verschiedenen europäischen Ländern. Das Unternehmen wurde 2003 gegründet, und die rund 10.000 Mitarbeiter erwirtschaften einen Umsatz von 500 Millionen Euro. TEDi ist ein Ableger der Tengelmann-Textiltochter Kik.

„Leerstände ermöglichen oftmals auch Chancen für Neues und Besseres“, sagt Citymanagerin Angela Bartelt. „Zu Gelsenkirchen-City ist zu sagen, dass die meisten Leerstände in kürzester Zeit wiederbelebt werden, was eine gute Nachfrage am Standort vermuten lässt. In den B- und C-Lagen der City ist die Entwicklung auch eher positiv.“
Diese Einschätzung folgt dem Motto: „Alles ist besser als Leerstand“. Der Leerstand ist aber nicht weit entfernt, und schon einen Steinwurf neben der Fußgängerzone blickt der Besucher in unzählige leere Schaufenster. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob der Weg über die Husemannstraße, die Ringstraße oder die Weberstraße führt. Der Leerstand ist hier Programm, und es hat auch traditionelle Unternehmen wie Papier Küper oder das Reisebüro Dr. Friedrich erwischt.

Gelsenkirchen ist keine Einkaufsstadt im klassischen Sinn, die für alle Schichten der Bevölkerung ein attraktives Angebot bietet. Die Verantwortlichen aus Wirtschaftsförderung, Interessenverbänden wie der IHK und der lokalen Politik weisen gerne auf die Zahl von 2.500 Kunden hin, die pro Stunde über die Bahnhofstraße „schlendern“. Diese vermeintlich eindrucksvolle Zahl relativiert sich im bundesweiten Vergleich, denn die frequenzstärksten Lagen kommen in München auf fast 13.000 und in Köln auf 11.000 Kunden. Selbst die Ruhrgebietsstädte Dortmund mit 7.000 und Essen mit 6.000 Besuchern liegen ebenfalls weit weg.
Der ehemalige Chef des Gelsenkirchen Jobcenters Reiner Lipka beklagte schon vor Jahren, dass man auf dem Weg durch die Fußgängerzone zum Bahnhof die Transferempfänger abzählen könne und dass hier jede vierte Familie Hartz IV bekäme. Geändert hat sich daran wenig. So bewegen sich heute zahlreiche Menschen mit geringem Einkommen, Zuwanderer aus Osteuropa und Flüchtlinge über die Gelsenkirchener Einkaufsmeile.

Axel Oppermann ist Optiker und hat seinen Laden in der Hauptstraße. Er glaubt, dass oft die falschen Mieter für die Leerstände genommen werden: „Im Großen und Ganzen hat sich das Angebot über die Jahre dem vermeintlichen pekuniären Status angeglichen. Will heißen: Geschäfte, die für Kunden mittleren bis hohen Einkommens, die Qualität suchen, interessant sein könnten, sind abgewandert, oder es fehlen Anreize, hier ein Geschäft zu betreiben.“

Ohne Moos nix los

Das wundert nicht, wenn man sich die wirtschaftliche Lage der Stadt anschaut. An Einkommen hat jeder Bürger in Gelsenkirchen nur 16.309 Euro im Jahr zur Verfügung – im NRW-Landesdurchschnitt sind es 20.409 Euro. Damit liegt Gelsenkirchen im Vergleich der 396 Kommunen auf Platz 390. So etwas wie einen ausgeprägten Mittelstand gibt es hier nicht.
Oberbürgermeister Frank Baranowski hat in seiner Rede auf dem Neujahrsempfang auf die steigende Zahl der Stellen für Akademiker hingewiesen. In den letzten 15 Jahren hat es hier einen Anstieg von 60 Prozent gegeben. Die Zahl von 10.900 hier lebenden Menschen mit einem Hochschulabschluss ist für eine Großstadt mit rund 265.000 Einwohner eher sehr niedrig.

„Wir haben das Problem, dass die Eigentümer und Vermieter nur an Premiummieter vermieten möchten. Diese aber wiederum durch die Stadt laufen und die Innenstadt aus wirtschaftlicher Sicht als nicht interessant genug einstufen. Wie wir aber uns alle denken können, ist Leerstand für den Vermieter nicht erstrebenswert – ‚kein Mieter‘ bedeutet ‚kein Geld‘“, sagt Cem Özdemir, Gastronom und Betreiber der Kultkneipe rosi. „Also wird dann einige Zeit später, in vermeintlich großer Not, an ‚jeden‘ vermietet. Was zwar den kurzzeitigen Leerstand beseitigt, aber auch das Stadtbild verändert – Tinnef für ’ne Mark. Wer genug Mut, Bildung oder Verzweiflung hat, meidet dieses Umfeld oder entfernt sich von diesem.“

Talentschwund und Abwanderung

Die Konsequenzen des Weggangs besonders gut ausgebildeter Bürger sind für die Stadtgesellschaft kaum aufzufangen und wirken sich nicht nur auf die Kaufkraft aus. Sind Akademiker, Künstler, Unternehmer und Kreative verschwunden, gibt es kaum eine Möglichkeit, sie zurückzuholen. Die kommunale Politik setzt auf Bildung, doch dabei bleibt oft die Frage unbeantwortet, was mit dem Nachwuchs nach Abschluss der Ausbildung passiert. Bleiben die Menschen in der Stadt oder begeben sie sich auf die Suche nach anderen Arbeitsorten? Glaubt man den Zahlen der Westfälischen Hochschule, dann verlassen vor allem die Absolventen in den Naturwissenschaften, der Mathematik und Ingenieure das Ruhrgebiet.

Für eine persönliche und berufliche Perspektive sind nicht nur interessante und gut bezahlte Jobs wichtig, sondern hier zählt auch die Lebensqualität einer Stadt. Die Bundesregierung hat vor einigen Wochen auf eine Anfrage der Grünen zu „abgehängten Regionen“ Gelsenkirchen, Herne und Oberhausen als von „unterdurchschnittlichen Lebensverhältnissen“ besonders betroffen bezeichnet. Dabei wurde auf die hohe Arbeitslosigkeit, das geringe Einkommen, das geringe Angebot an Ausbildungsplätzen und die niedrige Lebenserwartung hingewiesen. In diesen drei Städten haben männliche Bewohner eine um drei bis vier Jahre niedrigere Lebenserwartung als zum Beispiel in Bonn geborene männliche Bürger. Gelsenkirchen bewegt sich damit auf dem gleichen Stand wie Frankfurt-Oder, Prignitz in der Uckermark, Bremerhaven oder Bitterfeld.
„Ich erwarte von der Bundespolitik, dass sie sich ernsthaft mit den entscheidenden Struktur- und Zukunftsfragen beschäftigt und sich um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in unserem Land auch wirklich kümmert“, erklärt Oberbürgermeister Frank Baranowski dazu. „Den Sachverhalt der Ungleichheit festzustellen, ist das eine, zu handeln allerdings das andere. Dazu gehört auch eine angemessene finanzielle Ausstattung der betroffenen Kommunen.“
Es fließt schon seit Jahrzehnten viel Geld in die Stadt. Arbeitslosigkeit kostet, und die Verwaltung der Arbeitslosigkeit hat auch ihren Preis.

Kreativwirtschaft und Zwischennutzung

Vereinzelt unterstützen Stadtteilbüros oder das Quartiersmanagement im Ruhrgebiet Künstler bei der Nutzung von leerstehenden Räumen für zeitweise Kunstaktionen. Das hat es auch im Rahmen des Stadtteilprogramms Südost in Ückendorf gegeben – an der wirtschaftlich schwierigen Situation der Künstler hat es jedoch nichts geändert. Die kommunale Aufgeschlossenheit für Zwischennutzungen ist ein Abfallprodukt der Diskussion über die Kreativwirtschaft. Es stellt sich die Frage, wer die ganzen Leerstände überhaupt nutzen soll, denn eine ausreichend große kritische Masse an Künstlern und Kreativen existiert hier nicht oder nicht mehr.

„Die Vorstellung, die ‚Kreativen‘ müssten eigentlich ins Ruhrgebiet strömen, weil es hier so leer und billig ist, steht im Widerspruch zum tatsächlich stattfindenden künstlerischen ‚Brain-Drain‘“, heißt es in einer Erklärung der Aktivisten von „Recht auf Stadt Ruhr“. „Neue Impulse und ein interessiertes Publikum finden ‚Kreative‘ eher in echten Großstädten. Also lieber arm, aber sexy in Berlin?“
Leerstehende Ladenlokale und blinde Schaufenster werden wohl auch in Zukunft zum Gelsenkirchener Stadtbild gehören.

Kommentar

„Tue Gutes und rede darüber“

von Michael Voregger

So lautet ein passender Spruch der PR-Branche. Reden allein reicht also nicht, wenn man erfolgreich sein will. So ist es auch zu wenig, wenn die Stadt in ihrer Presserklärung zu den „abgehängten Regionen“ schreibt: „In Gelsenkirchen lässt es sich leben. Ziemlich gut sogar“. Das sehen viele Bürger anders und haben der Stadt den Rücken gekehrt.
Jeder Gelsenkirchener kennt Verwandte, Freunde und Klassenkameraden, die ihre Heimatstadt inzwischen verlassen haben. Das sind oft die Menschen, die besonders kreativ, innovativ und talentiert sind. Auch die vielen Gewerbetreibenden und kleinen Unternehmen, die mangels zahlungskräftiger Kundschaft ihre Geschäfte schließen mussten, werden einen anderen Blick auf das „gute Leben“ haben. Die Schließung der ersten Zeche in Gelsenkirchen liegt inzwischen fast 60 Jahre zurück – Zeit genug, um einen wirtschaftlichen Wandel einzuleiten und eine tragfähige Perspektive für die Zukunft zu entwickeln.
Das Hoffen auf einen staatlich finanzierten „sozialen Arbeitsmarkt“ ist trügerisch. In Gelsenkirchen sollen hier in den nächsten Jahren 200 sozialversicherungspflichtige Stellen geschaffen werden. In Anbetracht von aktuell gemeldeten 18.000 Arbeitslosen ist das weniger als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Das Hoffen auf soziale Gerechtigkeit bleibt Wunschdenken, zumal die SPD seit vielen Jahren in NRW und im Bund mitregiert. Vielleicht reicht es in Zeiten des Wahlkampfs zumindest für ein soziales Zentrum in der Stadt, wo sich die Bürger treffen können. Der Leerstand in der Innenstadt und den Stadtteilen ist nur ein Zeichen für den Niedergang. Hohe Arbeitslosigkeit und strukturelle Armut lassen sich nicht mit guten Worten bekämpfen. Die Situation in Gelsenkirchen hat sich längst von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung abgekoppelt. Während es „Deutschland gut geht“, steigt in der Stadt die Arbeitslosigkeit.
Allein der zutreffende Hinweis des Oberbürgermeisters auf die besonderen Menschen in der Region ist für viele ein Grund hier zu bleiben – trotz allem.

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2 Gedanken zu “Der Letzte macht das Licht aus

  1. Vielen Dank für diesen interessanten Artikel zum Thema „Leerstand, Kaufkraft und Abwanderung in Gelsenkirchen“, Herr Voregger. Sie schildern die vorherrschende Problematik des Gewerbeleerstands in Gelsenkirchen für mich sehr anschaulich!
    Mich würde es sehr freuen, wenn es hier in Zukunft allerdings auch einmal einen Artikel über die positiven Beispiele von Zwischennutzung und nachfolgender erfolgreicher Weitervermietung in Gelsenkirchen geben könnte. Denn auch diese gibt es hier vor Ort. Diese Zwischennutzungen/ Neuvermietungen im Gewerbebestand stellen selbstverständlich nicht die Mehrheit dar, sind jedoch meiner Meinung nach ein gutes Beispiel für das aktive Suchen und auch Finden von kreativen Lösungswegen aus einem Dilemma, welches sicher nicht nur Gelsenkirchen betrifft. Das „Kreativquartier Ückendorf“ halte ich für einen positiven Ansatz in dieser Richtung. Auch gibt es im Gelsenkirchener Norden das ein oder andere gelungene Beispiel von „Umnutzung/ Belebung von Leerstand“, die in den vergangenen Jahren ja auch von der lokalen Presse thematisiert bzw. auch im bekannten Gelsenkirchener Internetforum, den „Gelsenkirchener Geschichten“ benannt wurden. Solche kleinen „zarten Pflänzchen positiven Handelns“ in Form von Gewerbeleerstandsbelebung, existieren, neben all denn negativen Entwicklungen, die einem immer wieder präsentiert werden oder die sich einem durch blosses „Spazierengehen“ in Gelsenkirchen immer wieder selbst präsentieren, eben auch!!!
    Ob etwas erfolgreich ist oder nicht, hängt immer auch vom Einzelfall ab und von den Menschen, die an einen Wandel glauben und dazu bereit sind einen persönlichen Einsatz dafür zu zeigen, auch wenn die äußeren Unstände vielleicht nicht widriger sein könnten. Manchmal muss den Finger in die Wunde legen, manchmal muss man sich aber auch den Dingen widmen, die heilende Ansätze zeigen können, um nicht im Negativen zu verharren.
    Ihnen alles Gute. Freue mich auf weitere Artikel zum Thema!

  2. Innovation statt Subvention !
    So läuft es , wenn Planwirtschaft versucht die Gesetze der Marktwirtschaft zu ignorieren !
    Alleine schon die Diskussion über einen möglichen „Boulevard“ in Buer verschreckt schon jetzt mögliche Mieter und Investoren !
    Wieviel Steuergeld aus Düsseldorf will man hier eigentlich noch ineffizient verfeuern ?
    Privates Kapital und Ideen sind doch hinreichend vorhanden, nur werden diese unzureichend in GE miteingebunden !

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