Irgendwann kommt sie, vielleicht mit einem lauten Knall. Vielleicht aber gärt sie auch über einige Jahre in den Eingeweiden und macht sich nur hin und wieder mit einem unangenehmen Gefühl in der Bauchgegend bemerkbar. Diese Erkenntnis, falsch abgebogen zu sein. Das Gefühl, nicht in den richtigen Zug eingestiegen zu sein. In den Zug, den die anderen längst in Richtung einer strahlenden Zukunft und wohliger Anerkennung bestiegen haben und abgefahren sind. Die Gründe, einen schon beschritten beruflichen Weg erneut zu überdenken, sind mannigfaltig. Der Schritt, auf dem zweiten Bildungsweg sein Abitur nachzuholen, ist mutig. Wer durch das lineare Schulsystem gespült wird, hat es vergleichsweise leicht. Alle anderen machen es auch so, das warme Nest ist zu Hause bereitet, arbeiten gehen muss man vielleicht nur, um sein Taschengeld aufzubessern.
Ansonsten haben die meisten das Glück, sich ausschließlich mit Lernen und dem sicherlich spannenden Privatleben abmühen zu müssen. Doch für viele ist der „Schulweg“ nicht ganz so rosig und weich gepolstert. „Unsere Studierenden kommen aus allen möglichen Gründen, ihr Abitur nachzumachen“, erklärt Jörg Kramp, Schulsozialpädagoge am Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe (WEL). Den einen alleinigen Grund gäbe es nicht. Aussicht auf bessere Karriere-Chancen, der Wunsch, sich zu beweisen, doch mithalten zu können, gehöre genauso dazu wie der falsch gewählte Lehrberuf. Doch nicht immer sind die Gründe so klar abgrenzbar, so eindeutig benennbar. „Es gibt Studierende, die haben einiges zu tragen. Menschen mit psychischen Krankheiten beispielsweise fallen schnell aus dem regulären System. Wir haben kleinere Klassen, haben bessere Ressourcen, um diesen Menschen zu helfen, ihr Ziel zu erreichen“, so Kramp.
Auch Brüche in der eigenen Biografie, desolate familiäre Verhältnisse, Suchtprobleme oder Konflikte mit dem Gesetz können vom stringenten schulischen Weg abbringen. Das Kollegium des Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe kennt sie fast alle, diese Geschichten. „Auf jeden Fall bringen die meisten Studierenden hier Durchhaltewillen mit“, erzählt Schulleiterin Anke Budde. Und den brauchen sie auch, heißt es doch, noch einmal drei Jahre die Schulbank zu drücken. Das kann zum einen berufsbegleitend in den Abendstunden sein, andere wiederum wählen die Variante des täglichen Unterrichts. Ob so oder so; es bedarf Verlässlichkeit. Die Zahl der Studierenden am WEL schwankt je nach Konjunkturlage. So schicken die Arbeitsämter Job- und Ausbildungssuchende vermehrt zum Gelsenkirchener Kolleg, wenn die Arbeitslosenzahlen steigen. Das schafft Luft in der Statistik. Dass immer mehr Schüler*innen eines Jahrgangs mittlerweile Abitur machen – 55,2 Prozent in NRW 2020 – hat sicherlich auch mit den Zugangsvoraussetzungen zu Berufen zu tun, die noch vor einigen Jahren mit dem normalen Realschulabschluss zu ergattern waren. Man darf sich hier auch wieder die „Henne und Ei“-Frage stellen: Wer hat worauf reagiert?
Aber das steht auf einem anderen Blatt. Also selbst der KFZ-Mechaniker-Lehrling bringt heute am besten ein Abi in der Tasche mit? Er hat damit definitiv bessere Chancen. „Der Trend geht eindeutig weg vom Fachabi hin zum Vollabitur. Damit steigen die Chancen auf dem Ausbildungsmarkt enorm. Ich bin froh, dass wir mittlerweile das Zentralabitur haben. Sonst wurde gerne unser Abi als ein ‚Zweiter-Klasse-Abi’ angesehen. Aber hier bekommt niemand etwas geschenkt“, so Anke Budde. Geschenkt bekommen hat auch Sonja Kublun ihr Abi nicht. Sie war schon 40, als sie im WEL die Oberstufe begann. „Ich habe eine Ausbildung als Krankenschwester absolviert, habe dann lange Jahre in der Pflege gearbeitet. Und irgendwann kam der Punkt, an dem ich mich gefragt habe, ob das alles gewesen sein soll.” Zu dieser Zeit war sie selbst fast nur noch im Außendienst tätig, ständig unterwegs, um Pflegekräfte auszubilden. Das wollte sie weiter professionalisieren, sie wollte in die Lehre: „Und dafür brauchte ich das Abi.”
Kind, Job und Abi machen? Das ging bei Sonja Kublun, die Schichtdienst und Kindererziehung weiterhin unter einen Hut bekommen musste, ausschließlich im Konzept „Abitur online”. An zwei Abenden in der Woche müssen die Studierenden vor Ort im Unterricht präsent sein. Der restliche Unterrichtsstoff wird online zu Hause bewältigt. Fast wäre der Traum vom nachgeholten Abitur geplatzt. In ihrem Jahrgang waren nur wenig Studierende, so dass kein Vormittagskurs zustande kam: „Im Abendkurs fanden sich aber noch einige, die auch lieber vormittags zur Schule wollten, und auf unser Bitten hin wurden die Stunden vom Abend in den Morgen verlegt. Anders hätte ich es gar nicht bewältigen können, ich wollte ja schließlich auch noch für mein Kind da sein. Und eben auf solche individuellen Bedürfnisse, versucht diese Schule einzugehen. Da muss ich einmal ein großes Lob aussprechen.” 2017 machte Sonja Kublun ihr Fachabi, seit diesem Sommer hat sie ihren Bachelor im Fach Berufspädagogik im Gesundheitswesen in der Tasche.
Dass das Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe sich in so manchem von einer regulären Oberstufe abhebt, ist sicherlich auch in der Studierendenschaft begründet: „Wir haben es hier ja durchweg mit Erwachsenen zu tun. Viele haben schon ziemlich viel Lebenserfahrung. Wir haben ein respektvolles und erwachsenes Miteinander in der Kommunikation, die auf Augenhöhe ist”, so Anke Budde. Doch auch Erwachsene brauchen manchmal Unterstützung, wie Sozialpädagoge Kramp weiß: „Wir haben auch Studierende, die unter Depressionen leiden. Diese Menschen können nicht immer wie Gesunde zu bestimmten Zeiten ihre Leistungen erbringen. Die tauchen manchmal einfach ab und sind tagelang nicht erreichbar. Aber sobald es wieder besser geht, sind gerade sie meist sehr bemüht, den Ausfall zu kompensieren. Ich spreche in der Zeit mit den Lehrer*innen, die vielleicht ja auch gar nicht wissen, welche Problematik der*die Studierende hat. Dann versuche ich, für einen späteren Abgabetermin zu werben, was meistens auf sehr offene Ohren trifft.” Mehr von den Hintergründen bekommen die Lehrenden aber grundsätzlich nicht zu hören, da verweist Jörg Kramp auf seine Schweigepflicht.
Für Dirk-Matthias Timmer ist die Rechnung, das Abi draufzusetzen, ebenfalls aufgegangen. Als Familienpfleger ist er nun beruflich in der mittleren Leitungsebene angekommen, was noch ein paar Jahre zuvor unmöglich schien. „Ich war Berufsanfänger und bin nebenbei noch Taxi gefahren. Und dann abends immer noch lernen, das war schon eine Nummer. Aber ich wollte einfach mehr“, erinnert sich der Mitdreißiger, der nach einem kurzen Ausflug ins Studienfach Chemie wieder im Ursprungsberuf gelandet ist. Taxi fahren wird er nun aber nicht mehr müssen, dafür wird die Karriereleiter schon sorgen. „Mein Fazit ist, dass es hier jeder schaffen kann, der genug Willen mitbringt. Auch wenn man mal einen Hänger hat, wird man entweder durch die Klassenkameraden*innen aufgefangen oder die Lehrer unterstützen einen.“ Eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit ist für viele Studierende die finanzielle Seite.
Anders als im linearen Fluss der dreizehn zusammenhängenden Jahre, welche die Meisten durch das Schulsystem tragen, müssen die Beschreiter*innen des zweiten Bildungsweges ja auch den außerschulischen Teil ihres Lebens finanzieren, Kinder betreuen, manchmal Eltern pflegen oder gegen andere Widrigkeiten kämpfen. So einige gehen auf dem Weg auch verloren, die Kraft zum abendlichen Aufraffen reicht dann nicht mehr. „Wir versuchen immer, die Leute mit Gesprächen und gemeinsamem Suchen nach Hilfestrukturen bei der Stange zu halten. Aber sie sind erwachsen und freiwillig hier. Die Einstellung muss schon stimmen“, so Schulleiterin Budde. Isabell Lowitzki weiß genau, was sie meint. Die 28-Jährige musste auch viel nebenher arbeiten, um zum Bafög dazuzuverdienen: „Ich wusste aber auch genau, dass es irgendwann besser wird, ich wusste, wofür ich das Ganze mache.“ Die junge Mutter hatte zuvor eine Ausbildung angefangen und wieder abgebrochen, nicht aus Leichtfertigkeit, eher aus der Erkenntnis, dass Wunsch und Wirklichkeit manchmal auch im Beruf einfach keine Liebesbeziehung eingehen wollen. „Sport- und Fitnesskauffrau in der dualen Ausbildung“, antwortet sie und erzählt davon, dass Theorie und Praxis für sie zu weit auseinanderklafften. In diesem Beruf sah sie sich nicht und zog einen Schlussstrich. „Ich habe dann ganz naiv bei der Berufsberatung des Arbeitsamtes nachgefragt und bin auf eine sehr engagierte Sachbearbeiterin getroffen, die sich Zeit genommen hat und mir das Kolleg hier empfohlen hat.“ Eine gute Entscheidung, denn nachdem Isabell Lowitzki 2015 ihr Abitur beendete, steht sie nun kurz vor ihrem Master in der Erwachsenen- und Weiterbildung.„Ich kam mir unter meinen Freunden, die alle Abi hatten, ziemlich dumm vor. Obwohl ich wusste, dass das nicht stimmt“, erzählt Lydia Blümel. Die junge Frau entschied sich nach ihrer Lehre und einigen Jahren im Öffentlichen Dienst dazu, das Abi nachzuholen: „Alle zogen am mir vorbei, hatten Abi, studierten.“ Erschwert wurde ihr der Durchmarsch durch ihre Depressionen, die ihr phasenweise schwer zu schaffen machten und sie sich phasenweise kaum motivieren konnte, weiterzumachen: „Aber ich wusste, dass diese Zeiten wieder vorbeigehen. Depressionen ziehen sich durch mein Leben wie ein roter Faden, irgendwann akzeptiert man es und weiß , damit umzugehen.“ Lydia Blümel hatte sich für das berufsbegleitende „Abi online“ entschieden, weil sie sonst, nach eigener Aussage, „die Sache wohl nicht durchgezogen hätte.“ Die Hilfe seitens der Schule habe sie immer wieder motivieren können, am Ball zu bleiben. „Jedenfalls hat mich die Schulzeit hier so positiv gestärkt, dass ich jetzt mein Fernstudium Gesundheitspsychologie und Medizinpädagogik begonnen habe.“ Wir wünschen viel Erfolg!