Jan Böhmermann nimmt uns mit in seine Twitterwelt
von Denise Klein
Abseits der öffentlichen Meinung, der alten Medien mit ihrer Deutungshoheit, die nach und nach schwand und immer noch schwindet, abseits dessen entwickelte sich ein kleines Format namens Twitter, das sich vom Salon oder Diskutierclub in eine Glaskugel verwandelte, die schon früh weiß, wohin sich Gesellschaft in den nächsten Jahren entwickeln wird. Jan Böhmermann war einer der ersten, als er 2009 seinen Twitteraccount einrichtete. Am 16. Januar schrieb er: „Gut, also: Er funktioniert! Dann bin ich ab jetzt ein Twitterer. Was für eine Zeitverschwendung.“ Das Buch, das Jan Böhmermann unter dem Titel „Gefolgt, von niemandem, dem du folgst“ veröffentlicht hat, ist eine geballte Form seiner Twitterbeiträge der letzten elf Jahre. Doch auch wenn wir ausschließlich der Timeline des Autoren folgen, so entwickelt sich die schlichte Aneinanderreihung seiner Tweets zu einem sehr unterhaltsamen Galopp durch die gesellschaftlichen, politischen, popkulturellen und künstlerischen Entwicklungen eines ganzen Jahrzehnts. In der vorgegaukelten Intimität eines Dialogs zwischen Böhmermann und Hin und Kunz der öffentlichen Welt nimmt Böhmermann die Leser*innen in Sippenhaft: als würden wir ihm beim Schreiben über die Schulter sehen müssen, wenn er eine provokante Spitze raushaut.
Man duckt sich, damit der Shitstorm einen nicht hinwegfegt. Aber meist kommt dieser nicht, ist Jan Böhmermann doch eben nur ein „Kasper“, nicht ganz ernst zu nehmen. In diesem Spannungsfeld bewegen sich Leser*innen und der Autor während des ganzen Buches. Was ist Witz, Ironie, was ist echte Wut und bitterernste Anklage? Abseits der großen Leitartikel und Newsflashs bereist man ein gelebtes Jahrzehnt, und immer wieder erschrickt man, wieviel doch passiert ist und an wie wenig man sich noch erinnert. Und die Veränderung im politischen Diskurs und in der zwischenmenschlichen Diskussion schälen die mal kürzeren, mal längeren Böhmermann´schen Beiträge unmissverständlich heraus. Alles ist spitzer geworden, moralischer und eben politisch korrekter. Während es in der übrigen Social Media-Welt völlig ok ist, Menschen auf ihre Körper zu reduzieren, aufgepumpte Lippen, Bizeps oder Hintern als cool gelten und Geld bringen, im Rapstyle Frauen zum herabgewürdigten Objekt werden, steht Twitter dem als moralische, sensible, aber auch unerbittliche Instanz gegenüber, sich gegen jedwede Diskriminierung mit Gebrüll in den Kampf zu werfen.
Böhmermann vermag es mit seinen Beiträgen, auch mal im Ungefähren zu bleiben und eher Fragen aufzuwerfen, als sie zu beantworten. Nicht immer auf der Seite der Guten, aber eben doch fast immer, begleiten wir ihn durch ein prägendes Jahrzehnt seiner Sozialisierung, unser aller digitalen Sozialisierung. Nicht immer witzig, meist jedoch fantastisch lustig und unangepasst, durchleiden wir mit ihm seinen wohl schwierigsten Punkt der „Narren“-Karriere (Schmähgedicht mit anschließend hochgepushter diplomatischer Staatskrise), regen uns über gierige Fußballmanager auf, müssen teilnehmen an Fassungslosigkeit (Anschlag auf Charlie Hebdo), aber dürfen auch den via Twitter geführten Echtzeitdialog zwischen Böhmermann und anderen Fahrgästen in stillstehenden ICE. Amüsant, kurzweilig, aufschlussreich: wer Böhmermann mag, wird Tweets und Scharmützel äußerst sympathisch und lesenswert finden. Wer ihn nicht mag, sollte andere Literatur kaufen.
Jan Böhmermann „Gefolgt, von niemandem, dem du folgst – twittertagebuch 2009 – 2020“ Kiepenheuer&Witsch 464 Seiten ISBN: 978-3-462-00058-0 22 €