Die Stallballade

Ein zeitgenössisches Warten auf’s Christkind

von André Wülfing

Unser Stall gemahnt mit seinen 3×6 Metern an einen Überseecontainer und damit auch an eine Nutzung als Flüchtlingsheim oder medizinische Versorgungsstation. Es gibt eine Tür. Möbliert ist er mit einfachen Stühlen, evtl. erinnert eine Andeutung von zwei, drei Holzlatten und Strohresten an den kolportierten Stall von Bethlehem.
Die Kleidung des Ensembles soll normal, durchschnittlich und heutig sein. Der eine oder die andere kann wahlweise viel zu warm oder eigentlich zu sommerlich gekleidet sein. Einzig kleine, aber ernst zu nehmende Details gehören unabänderlich zur jeweiligen Figur: ein langer Wanderstab, ein Umhängetuch, eine graue Mütze mit Ohrenklappen, ein Ring durch die Nase, Fellmützen oder Wollschal etc.

Jupp und Marie, hereinkommend, nehmen Platz.
Jupp: Ja, wie hieß denn der mit den langen Haaren, der immer bekifft war?
Marie: Weiß nicht mehr, wie der hieß.
Jupp: Oder dieser … „Prophet” haben den immer alle genannt!?
Marie: Der doch nicht. Ich habe wirklich keine Ahnung mehr. Ich war eben komisch drauf in der Zeit. Hab es gebraucht.
Jupp: Was, „gebraucht”?
Marie: Dass man mich gern hatte und so.
Jupp: Na toll. Und dann eben mit jedem Dahergelaufenen ab in die Falle. Und jetzt nicht wissen, von wem das Kind ist.
Marie: Na und? Kann dir doch egal sein.
Jupp: Hör mal, als ich mich auf dich eingelassen hab, hab ich keine Ahnung gehabt.
Marie: Nee. Extra nicht.
Jupp: Hätte dir direkt wieder den Laufpass, hätte ich.
Marie: Zu spät. Jetzt habe ich schon angemeldet, dass du der Vater bist.
Jupp: Vater bist, Vater bist. Das kannst du dem Herrgott erzählen. Wahrscheinlich hat das Kind auch gar nicht unbedingt eine weiße Hautfarbe, weißte.
Marie: Und wenn nicht? Hat es eben eine grüne. – Muss man hier lange warten?
Es erscheinen Schimanski und Precht-Habermas, augenscheinlich der Ochs und der Esel in der Szene.
Schimanski: Siehst du, sag ich doch. Kaum geht man mal eine rauchen, ist dein Warteplatz weg.
Habermas: Die haben dich doch notiert.
Schimanski: Wie, notiert?
Habermas: Deinen Namen und wann du dran bist.
Schimanski: Notiert. Ich notiere, die beiden da haben sich vorgedrängelt.
Sie setzen sich.
Habermas: Komm, lass mal. Die ist in Umständen.
Schimanski: In Umständen, das bin ich auch. Gibt es hier was zu fressen?
Sie blicken sich um, warten.
Habermas: Äh … Entschuldigung … Warten Sie schon lange?
Jupp: Nein, seit fünf …
Marie: Schon ewig!
Habermas: Ewig. Aha. – Und, worauf so?
Sie schauen sich alle an.
Schimanski: Auf’s Christkind!!!
Alle lachen. Man wartet …
Marie: Adele.
Jupp: Bitte?
Marie: Ich weiß jetzt, wie ich sie nenne. Adele.
Jupp: Weißt du schon, dass dein Kind …
Marie: Unser Kind!
Jupp: … dass das da ein Mädchen ist?
Marie: Ich fühle es. Und falls nicht, ist auch egal. Jedenfalls wird es Adele heißen.
Habermas: Entschuldigt … Vielleicht sollten wir uns mal vorstellen, wenn man schon hier so lange zusammen rumsitzt. Mein Name ist Precht-Habermas, und ich bin von Beruf …
Schimanski: … von Beruf Esel. – Schimanski. Ochse.
Jupp: Jupp. – Marie.
Schimanski: Ist klar. Habe ich mir gedacht.
Habermas: Solltet ihr euch fragen, worauf wir hier warten, kann ich gerne Auskunft geben.
Schimanski: Habermas gibt stets gerne Auskünfte!
Habermas: Das ist nämlich so …
Eine Assistentin erscheint in der Tür. Durchsage.
Assistentin: Achtung, Durchsage von ganz oben, Bitte um Aufmerksamkeit. Leider verschlechtert sich die allgemeine Lage. Die Platzkapazität in den Warteräumen muss demnach ab sofort halbiert werden. Mit Kontrollen ist zu rechnen. Danke sehr, weiterhin eine frohe Zeit.
Die Assistentin verschwindet wieder. Man halbiert den Raum, indem die Wartenden ihre Stühle eng zusammenrücken.
Habermas: Also, wir warten nämlich auf unsere Rehabilitation, der Ochse Schimanski und ich. – Möchtet ihr gerne wissen, warum? … Also …
Die Tür geht auf. Drei Gestalten kommen herein, einer nach dem anderen, immer Tür auf und zu und wieder auf, augenscheinlich die Hirten. Sie summen „Stern über Bethlehem”.
Scholz: Moin, Scholz.
Baerbock: Moin, Baerbock.
Habeck: Moin, Habeck.
Sie nehmen Platz, einer muss schon stehen.
Scholz: Ja, ihr braucht gar nicht so zu gucken. Geschenke haben wir nicht mitgebracht.
Baerbock: Konnten wir in der Eile jetzt auch nicht mehr …

Habeck: Irgend so ein Offizieller hat uns nur gesagt, wir sollten hier mal gucken. Hier wär‘ was.
Scholz: Nur hier ist doch nichts.
Baerbock: Oder ist hier was?
Habeck: Wir können unsere Schäfchen auch nicht allzu lange im Trockenen …
Scholz: Ihr versteht.
Baerbock: Wenn was ist, dann sagt es.
Habeck: Sonst warten wir ein bisschen, und dann – wieder ab.
Man wartet
Jupp: Gabriel!
Marie: Was?
Jupp: Der Typ mit den langen Haaren, der Bekiffte. Mit dem du vor einem dreiviertel Jahr … Gabriel hieß der!
Marie: Ach, der.
Jupp: Der ist der Vater!
Marie: Keine Ahnung. Außerdem war der so erz-konservativ, du glaubst es nicht. Der hat seine Socken angelassen. Ein Revoluzzer wird das nicht gerade, das hier.
Jupp: Konservativ, Konservativ. Hätte er mal benutzen sollen.
Schimanski: Wie war das noch mal mit was zu fressen hier??
Habermas: Ihr Lieben, also, „Rehabilitation”, das bedeutet in meinen Augen …
Die Assistentin erscheint in der Tür. Durchsage.
Assistentin: Achtung, Durchsage von ganz oben, Bitte um Aufmerksamkeit. Leider verschlechtert sich die allgemeine Lage weiterhin. Die Platzkapazität in den Warteräumen muss demnach ab sofort drastisch reduziert werden. Mit Kontrollen ist zu rechnen. Danke sehr, weiterhin eine frohe Zeit.
Die Assistentin verschwindet wieder. Man halbiert den Raum nochmals, indem die Wartenden ihre Stühle so eng wie irgend möglich zusammenrücken.
Scholz: Scheint hier so eine Art Warteraum zu sein.
Baerbock: Wartezimmer.
Habeck: Wartesaal.
Scholz: Großes Glück.
Baerbock: Besser Wetter.
Habeck: Den Richtigen.
Scholz: Rettung.
Baerbock: Erlösung.
Habeck: Erleuchtung.
Schimanski: Endlich was zu fressen.
Habermas: „Rehabilitation”, das …
Die Tür geht auf. Es erscheinen noch mal drei, alle auf einmal. Sie bleiben zunächst in der Tür stehen.
Erste Waise: Entschuldigung, ist das hier die Flüchtlingsberatung?
Nee, nein, Köpfe schütteln …
Marie: Brauchen wir auch bald, FIüchtlingsberatung …
Schimanski: Wer will das wissen?
Zweite Waise: Wir sind drei Waisen. Aus dem Morgenland.
Scholz: Wie, direkt von da, von da … unten?
Baerbock: Hierher?
Habeck: Ohne Eltern, oder wie?
Jupp: Darf man das, da bei … euch?
Habermas: Echt jetzt, voll Waisen?
Dritte Waise: „UMF”. Unbegleitete, minderjährige FIüchtlinge.
Alle anderen: Woher kommt ihr denn?
Erste Waise: Na ja, von da …
Zweite Waise: … und da .. .
Dritte Waise: … weit weg … und gar nicht so weit weg …
Erste Waise: Von da, wo es furchtbar schlimm ist.
Zweite Waise: Schlimmer als hier.
Dritte Waise: Viel schlimmer.

Erste Waise: Es hieß, hier sei Rettung.
Zweite Waise: Hier bei euch.
Dritte Waise: Erlösung.
Alle drei: Und???
Man schaut sich kurz beratend an und winkt dann die drei Waisen herein, ganz nah zu sich heran. Man quetscht sich auf engstem Raum zusammen.
Man wartet
Marie: Sagt mal, heißt eine von euch zufällig „Adele”?
Die Assistentin erscheint in der Tür. Durchsage.
Assistentin: Achtung, Durchsage von ganz oben, Bitte um Aufmerksamkeit. Die allgemeine Lage ist weiterhin sehr schlecht. Die Platzkapazität in den Warteräumen … Mit anderen Worten: GürteI enger schnallen! Obwohl mit Kontrollen kaum zu rechnen ist. Danke sehr, weiterhin eine frohe Zeit.
Die Assistentin verschwindet wieder. Man schiebt alle Stühle weit weg und rückt ganz dicht zusammen. Schließlich entsteht wie von selbst eine Art Idyll des Stalls von Bethlehem.
Man wartet
Einer der Hirten tritt heraus und macht ein Foto von der Gruppe. Man posiert ein bisschen. Alle gucken sich das Foto auf dem Display der Kamera an und freuen sich dran. Der Hirte nimmt wieder seinen Platz ein.
Die Assistentin erscheint in der Tür
Assistentin: So, bitte …
Sie sieht die Versammelten, dann streng empört:
Assistentin: Ich darf ja wohl bitten!
Man kramt hektisch beflissen nach seinem Mund-Nasen-Schutz und setzt ihn auf; einer gleich zwei auf einmal, einer evtl. auch betont langsam, eine zieht sich das Halstuch hoch vor den Mund. Anschließend schaut man sich um, ob auch alle anderen brav waren – einer nicht: Schimanski. Man starrt ihn an wie einen Außerirdischen.
Schimanski: Oh … Allergie.
Man starrt und lehnt sich dann beruhigt zurück. Einer steckt seine Maske auch einfach wieder ein.
Assistentin: So, geht doch. – Bitte Frau … „Marie G. Bennedeit” und Herr … ähm … „Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Dawuhd al Gossarah”.
Jupp: Jupp hätte gereicht.
Marie und Jupp verabschieden sich nickend von den anderen und wandern mit der Assistentin hinaus.
Scholz: Worauf die wohl gewartet haben?
Schimanski: Die waren eigentlich nicht vor uns dran.
Erste Waise: Schnell-Test vielleicht?
Baerbock: Oder impfen? Da soll doch jetzt überall so eine Impfung sein, habe ich gehört.
Zweite Waise: Kreißsaal, wenn ich das richtig gesehen habe. Kreißsaal.
Habermas: Ehe- und Familienberatung, würde ich eher schätzen.
Habeck: Termin beim Arzt. Egal welcher.
Dritte Waise: Hauptsache:
Alle: Termin!

 

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