Kindheit im Pott
Eine Erzählung
von Lothar Lange
Jau, ich hab das Knacken auch gehört. Mein Herz klopft. Das kann nur der Bullemann sein, denn hier im Dachgeschoss wohnt neben uns nur noch Omma Urbanski, und Omma Urbanski ist alt, die schafft gerade mal mit Mühe die Treppe runter zum Klo auf halber Treppe, das wir mit ihr teilen. Die steilen Stufen zum Dachboden hoch, das kann sie nicht mehr, und was soll sie da auch? Da oben steht nur olles Gerümpel, da ist es muffig und dreckig und voll mit dicken fetten Spinnweben.
Aber von dort oben knackt es immer wieder mal.
Das kann nur der Bullemann sein. Und vor dem habe ich Schiss. Richtig Schiss…
Unsere kleine Dachwohnung in Gelsenkirchen-Erle liegt in einer dunklen Ecke links hinter der Dachbodenleiter. Wenn ich von draußen zu uns in die Wohnung hochkomme, habe ich immer Bammel, dass der Bullemann dort hinter der Ecke auf mich lauert. Tagsüber geht es, aber wenn es abends schummerig ist…
Das trübe Flurlicht reicht nicht ganz bis um die Ecke herum. Und so eine elektrische Haustürklingel, wie die in den Neubausiedlungen, haben wir nicht. Schade. Denn dann könnte ich unten klingeln, und meine Mutti würde oben auf mich warten. Ist aber nicht, also stampfe ich, wenn ich die Treppenstufen hochgehe, etwas lauter auf und rufe hoch, dass ich jetzt komme. Sicher ist sicher.
Schlimmer, viel schlimmer ist es aber im schwarzen Kohlenkeller: da gibt es nur eine kleine Lampe, gleich am Anfang, wenn man die Kellerteppe runterkommt. Dahinter bleibt alles dunkel. Direkt vor Kopf kann man durch die Ritzen der Heizungskellertüre sehen, wie es im großen Koksofen, der das Friseurgeschäft und die Wohnung unseres Hauseigentümers wärmt, rötlich flackert. Und es bullert darin. Hier unten wohnt der Bullemann, sagt Mutti.
Das ist doof, denn wir haben bei uns oben unterm Dach nur einen Kohleherd, und für mich ist es das Schlimmste, wenn ich zum Kohlenholen ganz alleine in den Keller runter muss. Mit Kohleneimer und Taschenlampe. Dorthin, wo der Bullemann auf mich wartet.
Immer wieder bettele ich, Mutti soll doch bitte, bitte mitkommen, doch das macht sie selten. Wenn ich Glück habe, sind meine Freunde, die im Haus wohnen, hinten auf dem Hof. Denen kann ich dann sagen, dass ich im Keller bin, damit sie sich oben an der Kellertüre hinstellen. Mit herunterzukommen trauen sie sich nicht.
Sie wissen schließlich auch, dass der Bullemann da unten lauert.
Also: erst die Taschenlampe an, dann die Kellertüre auf, Licht anknipsen, mit rasendem Herzkloppen nach unten an dem glühenden Bullerofen vorbei in den unbeleuchteten Gang nach links zu unserem Keller. Das Aufschließen des Vorhängeschlosses ist meist schwierig, weil ich ganz rappelig vor lauter Angst den kleinen Schlüssel nie schnell genug ins Schloss bekomme.
Rein in unseren Keller, gegen die Angst anpfeifen, Kohlen in den Eimer schaufeln. War da nicht etwas? Hat da was geraschelt? Boah! Jetzt aber so schnell wie möglich hier wieder raus, nach oben: geschafft!!!
Wie der Bullemann wohl aussieht? Ich glaube, dass der richtig groß ist und einen ganz dunklen Umhang trägt, zottelige Haare und einen langen Bart hat und richtig böse guckt. Und dass der Kinder mitnimmt, wie die Großen immer sagen. Erst recht wenn man nicht lieb oder still ist.
Einmal dachte ich, dass ich ihn gesehen habe: oben, direkt an der Ecke vor der Dachbodenleiter, als ich – im Dunklen, abends! – ganz allein zu Hause war und eine Treppe tiefer auf’s Klo musste. Ich öffnete die Wohnungstüre, wollte gerade in den Hausflur gehen, als eine riesig-große dunkle Gestalt – an der Dachbodenleiter angelehnt – dastand – und sich nicht bewegte. Vor Schreck sprang ich in die Wohnung zurück und schloss ganz schnell die Türe hinter mir zu, rannte ins Schlafzimmer, versteckte mich unterm Bett meiner Mutter – hielt mir vor lauter Angst ganz feste die Ohren zu und blieb dort mucksmäuschenstill liegen, in der Hoffnung, dass der Bullemann jetzt bloß nicht durch die Türe kommt und mich holt. Eine lange Ewigkeit lag ich dort angespannt vor Angst, immer feste meine Ohren zuhaltend.
Plötzlich Schritte von nebenan, ich hörte ganz dumpf, wie die Schlafzimmertüre aufging. Jetzt kommt er! Lieber Gott, wo bleibt Mutti? Ich mach mir gleich in die Buxe!
„Jungchen, was machst Du denn da unter’m Bett? Komm mal da hervor!“
Muttis Stimme! Ich erkannte von hier unterm Bett, dass es ihre Schuhe waren, kroch aus meinem Versteck hervor und erzählte ihr aufgeregt, dass ich im Hausflur den Bullemann gesehen habe.
„Zeig mal, wo hast Du den gesehen?“
„Da im Flur, ganz groß stand der da!“
„Komm, sollen wir mal gucken, was da war?“
„Neee!!!“
Meine Mutter nahm mich an die Hand, öffnete die Wohnungstüre und – da stand er noch immer – und bewegte sich nicht! Der Bullemann!
Ohne Schiss ging meine Mutter auf ihn zu und sagte zu mir:
„So. Jetzt guck mal genau hin! Das ist kein Bullemann, Jungchen, das ist eine Teppichrolle, das ist der neue Teppich von Omma Urbanski. Den bekommt sie morgen verlegt. Komm mal her, den kannst Du ruhig auch anfassen. Der frisst Dich nicht.“
Tatsächlich: Da lehnte eine große dunkle Teppichrolle an der Dachbodenleiter.
Jetzt sah ich es auch, aber so richtig weg war meine Angst trotzdem noch lange nicht.
„Mutti, ich muss runter auf’s Klo, bleibst Du hier oben stehen, und wartest?“
Bullemann und Co
Die schönsten Gruselgeschichten aus dem Ruhrgebiet
Henselowsky u. Boschmann
ISBN: 3922750443
Lothar Lange
Der gebürtige Erler Lothar Lange schreibt u.a. Gedichte und Geschichten mit Gelsenkirchener Lokalkolorit. Gemeinsam mit Heimatforscher und Buchautor Hubert Kurowski präsentierte er seine inzwischen legendäre „Erle-Revue“, stand mehrere Jahre auf der Bühne der Theatergesellschaft Preziosa, parodiert, moderiert und bestreitet Lesungen.