In Gelsenkirchen und anderen Städten in NRW klappern derzeit die Werber der Telekom die Haushalte ab, um Kunden für das schnelle Breitbandnetz zu gewinnen. Es scheint eine neue Begeisterung für die Möglichkeiten der digitalen Welt Einzug zu halten. Lokale Medien sehen eine „Initialzündung für ein neues digitales Zeitalter“.
Die Politik treibt nach eigenem Verständnis mit großem Tempo „den digitalen Wandel“ voran. Anlass für die Euphorie sind Fördermittel von Land und Bund, die auch nach Gelsenkirchen fließen. Gegen Fördermittel in Zeiten des Wahlkampfs ist nichts einzuwenden, aber sie müssen auch gut angelegt werden. Da hilft ein Blick in die digitale Realität in der Stadt.
49,44 Millionen Euro bekommt Gelsenkirchen bis 2020 aus dem NRW-Landesprogramm „Gute Schule 2020“. Ein Viertel davon soll für die Digitalisierung der Schulen ausgegeben werden. Die Stadt sieht sich ganz gut aufgestellt, und immerhin verfügen alle Schulen schon jetzt über einen Glasfaseranschluss. Der Alltag in den Schulen ist aber ein anderer, und digitale Bildung findet hier nur sehr lückenhaft statt.Der erste Flaschenhals für die Verbindung in das Internet sind die installierten Filterprogramme, die unerwünschte Inhalte ausblenden und als Nebenwirkung die Geschwindigkeit der Rechner bremsen. Die Schulen verfügen zwar inzwischen über eine bestimmte Anzahl von Computern und Smartboards, aber die Nutzung ist sehr unterschiedlich. Fragt man die Schüler verschiedener Jahrgänge und Schulformen, dann haben sie oft über Wochen und Monate den PC-Raum nicht von innen gesehen. Das hat auch mit der technischen Ausstattung zu tun. Man kann sich das Chaos im PC-Raum vorstellen, wenn bereits beim Hochfahren von 30 Rechnern ein Drittel nicht funktioniert.
Die Installation von aktueller Software – auch ohne Lizenz und zu freier Nutzung – ist nur mit langem Vorlauf möglich. Dafür ist die kommunale Dienstleistungsgesellschaft „gkdel“ zuständig, und die Mitarbeiter müssen stets erst angefordert werden. In den Schulen gibt es keine eigenen IT-Fachleute, und meist übernehmen einige Lehrer die Betreuung der Technik neben ihrer eigentlichen Aufgabe. Das ist bei Schulen mit mehreren Hundert Schülern und Lehrern kaum zu bewältigen. Kommunale Beschaffungsprozesse dauern ihre Zeit, und wenn bei der Ausschreibung nicht die schnellsten Computer gewählt werden, dann landen am Ende nicht mehr zeitgemäße Rechner in den Schulen. Manchmal sind es auch die einfachen Dinge, die Multimedia im Unterricht unmöglich machen. Im PC-Raum kann nicht jeder Rechner mit Lautsprechern arbeiten, da der Lärm sonst unerträglich wird. Eine Lösung sind hier Kopfhörer, die aber in der Regel nicht in ausreichender Zahl oder gar nicht vorhanden sind.
Bildung ist der richtige Weg
Schulen und Lehrer sind auf den digitalen Wandel nicht wirklich vorbereitet. Zu dem Ergebnis kommt auch die im November 2014 veröffentlicht ICILS-Studie – ICILS steht für „International Computer and Information Literacy Study“. Im internationalen Vergleich lagen die deutschen Schüler im Mittelfeld. Das widerspricht der weit verbreiteten Annahme, dass Jugendliche durch das Aufwachsen mit neuen Technologien automatisch zu kompetenten Nutzern digitaler Medien werden. Die Studie fordert die Verantwortlichen zu einer konzeptionellen Verankerung digitaler Medien in schulische Lehr- und Lernprozesse auf – sonst droht weiter digitales Mittelmaß. „Unter dem Strich erhalten die Schulen in unseren Umfragen für ihre IT-Ausstattung gerade einmal einen Notendurchschnitt von 3,6 und damit die Schulnote Ausreichend“, sagt Udo Beckmann, Bundesvorsitzender vom Verband Bildung und Erziehung. „Acht von zehn Lehrern fordern mehr einschlägige Weiterbildungsangebote. Lehrer sind keine IT-Muffel. Nur vier Prozent der Befragten sehen in digitalen Technologien eine Mode, der die Schule nicht hinterherlaufen sollte“. Und genauso wie der digitale Wandel alle Lebenslagen durchdringt, hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die Vermittlung von Computerkompetenzen in jedes Fach gehört und nicht in einen gesonderten Informatik-Unterricht. Doch ein systematischer Zugang zu medien-pädagogischen Konzepten fehlt Schulen oft.
Gründerszene ohne Gründer
Gelsenkirchen fährt auf der digitalen Überholspur“, erklärte SPD-Ratsmitglied Taner Ünalgan bei seiner Antrittsrede im Rat. „Wer gute Ideen hat, der muss nicht nach Berlin, Hamburg oder München ziehen, um sein Startup zu gründen“. Die Realität sieht allerdings anders aus, denn Berlin ist weiterhin die Metropole für Start-ups in Deutschland. In der Hauptstadt tummeln sich 2000 junge Unternehmen und in ganz NRW gibt es vielleicht 400 bis 500. Das ist immer noch wenig im Vergleich zu amerikanischen Verhältnissen. Im kalifornischen Silicon Valley arbeiten 27.000 Start-Ups am wirtschaftlichen Erfolg. NRW-Wirtschaftsminister Garrelt Duin (SPD) sieht in Start-up-Unternehmen die wichtigsten Antreiber für den digitalen Wandel: „NRW bringt alle Voraussetzungen mit, um das Digital-Land Nummer Eins in Deutschland zu werden“. Die Landesregierung hat deshalb die Initiative „Strategie für die Digitale Wirtschaft“ (DWNRW) entwickelt. Damit werden sechs sogenannte DWNRW-Hubs in Aachen, Bonn, Düsseldorf, Köln, Münster und dem Ruhrgebiet mit bis zu 12,5 Millionen Euro unterstützt. Dabei geht es um „eine enge Zusammenarbeit zwischen Start-ups, Industrie und Mittelstand“ heißt es im Wirtschaftsbericht 2016 des Wirtschaftsministeriums. Das Geld verteilt sich auf sechs Regionen, und für das Ruhrgebiet bleiben etwa 2,1 Millionen übrig, die sich wiederum auf Bochum, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen und Mülheim aufteilen. Das macht für jede Stadt etwa 110.000 Euro pro Jahr. Der Eigenanteil der Stadt beträgt für die drei Jahre rund 70.000 Euro, und natürlich wird für die Umsetzung eine eigene GmbH gegründet. Die Frage muss hier erlaubt sein, warum die kommunale Wirtschaftsförderung solche Projekte nicht betreuen kann.
Berlin liegt deshalb weit vorne, weil es hier inzwischen ein eigenes und ständig wachsendes Universum für Technologieunternehmen gibt. In der Hauptstadt haben zum Beispiel Zalando und Soundcloud ihren Firmensitz. Programmierer und Entwickler finden dort nicht nur einen Job, sondern sie können den Arbeitgeber wechseln. Das ist im Ruhrgebiet nur schwer möglich, und selbst etablierte Firmen wie G-Data aus Bochum tun sich bei der Suche nach neuen Mitarbeitern schwer. „Wir finden schon Fachleute und Programmierer, die gut zu uns passen würden“ sagt Pressesprecher Torsten Urbanski. „Wenn dann allerdings der Standort Bochum und das Ruhrgebiet ins Gespräch kommen, dann gibt es oft eine Absage“. Nur jedes zehnte deutsche Start-up sitzt in NRW, und das lässt sich auch nur sehr schwer ändern. In Gelsenkirchen muss die lokale Politik die vorhanden Unternehmen unterstützen und die Verbindung zur Westfälischen Hochschule weiter entwickeln. Hier gibt es zum Beispiel das Institut für Internetsicherheit, das bundesweit für seine Experten und gute Arbeit bekannt ist. Ein Gründerboom ist hier allerdings nicht zu erwarten, aber auch kleine Schritte sind wichtig. Damit innovative Unternehmen und qualifizierte Mitarbeiter im Ruhrgebiet bleiben, muss sich aber auch die Lebensqualität der Städte verbessern.
Arbeit im Wandel
Der digitale Wandel ist nicht aufzuhalten, und die Möglichkeiten der politischen Gestaltung sind gering. Schon in den nächsten Jahren wird die Digitalisierung Berufe und Arbeitsplätze vernichten. Experten gehen davon aus, dass etwa 15 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ersetzbar sind. Besonders gefährdet sind Jobs in der Metallverarbeitung, im Einzelhandel, der Logistik, einfache Dienstleistungen und Telefonmarketing. Je geringer das Qualifikationsniveau, desto höher ist der Grad der Ersetzbarkeit. In Gelsenkirchen gibt es viele Arbeitsplätze in diesem Bereich, und die Wirtschaftsförderung setzt weiter auf diese Bereiche. Das hat wenig Perspektiven – die Verbesserung der Bildung ergibt da schon mehr Sinn.
Schnelles Internet in der Stadt
Eine digitale Zukunft ist ohne schnelles Internet nicht möglich, und da steht Gelsenkirchen in NRW sehr gut da. Mehr als 90 Prozent der Haushalte haben hier eine Zugangsmöglichkeit zu sogenannten Breitbandanschlüssen mit mehr als 50 Megabit pro Sekunde. Die Telekom setzt dabei auf die Vectoring-Technologie, und der Ausbau mit Glasfaser wird nicht in die Häuser vorangetrieben, sondern in die bestehenden Verteilerkästen. Das letzte Stück zum Kunden – die letzten 300 Meter muss – dann die Telefonleitung mit den alten Kupferkabeln bewältigen. Durch eine spezielle Abschirmung lassen sich hier maximal Übertragungsraten von 100 Megabit erreichen. Das ist für die aktuellen Bedingungen ausreichend, aber es ist keine große Steigerung mehr möglich. „Es wird schon langsam knapp mit 50 Megabit – nämlich dann, wenn mehr Inhalte im Format 4K verfügbar werden. Für normales HD und eine sehr gute Qualität benötige ich heute schon 10 bis 12 Megabit“, sagt Urs Mansmann, Redakteur bei der Computerzeitschrift ct. „Mit 4K vervierfacht sich das, und da sind wir schon mit einem Stream bei 50 Megabit. Bei einer Familie mit mehreren Kindern, werden die 50 Megabit für alle nicht ausreichen. Es wird also sehr schnell gehen, dass diese 50 Megabit auch schon wieder zu wenig sind“. Mit dem Einsatz von Glasfasern bis in die Häuser wäre ein Mehrfaches der Bandbreite möglich, aber diese Investition wird immer weiter in die Zukunft verschoben.
Der digitale Wandel geht an Gelsenkirchen nicht vorbei, und es ist an der Zeit, in die Bildung zu investieren. Dabei reicht es nicht, schnelle Netze und neue Rechner zu bestellen, sondern es muss in die Ausbildung der Lehrer investiert werden. Die Schulen brauchen eine Betreuung ihrer Technik durch eigene Fachkräfte. Außerdem muss die digitale Bildung fächerübergreifend erfolgen und darf nicht in das Fach Informatik abgeschoben werden. Das föderale Bildungssystem macht es hier für die Kommunen schwierig, weil sie eigentlich nur für Sachen und nicht für die Inhalte zuständig sind. Hier ist politische Einflussnahme auf die Landesregierung in Düsseldorf nötig.