Stell dir einmal vor, du wachst morgens auf und kannst nichts mehr hören. Du musst dich beim Frühstück nicht mehr mit deinen Eltern unterhalten, deine Geschwister nerven dich nicht mehr und selbst im Bus auf dem Weg zur Schule ist es plötzlich mucksmäuschenstill. Für eine kurze Zeit mag das vielleicht angenehm sein. Es heißt aber auch, dass du Videos nur noch ohne Ton gucken und keine Musik mehr hören kannst, egal, wie laut du sie drehst. Dann doch lieber die nervigen Geschwister ertragen, oder?
Es gibt aber Menschen, denen geht es immer so, weil sie hochgradig schwerhörig oder komplett gehörlos sind. Man geht davon aus, dass jeder zehnte Mensch auf der Welt nichts hören kann, in Deutschland also 83.000 Menschen.
Gehörlose reden in Gebärdensprachen
Du hast vielleicht schon mal gehörlose Menschen gesehen, die sich in der Bahn oder dem Bus oder in der Stadt unterhalten. Sie sprechen natürlich nicht, sondern bewegen die Arme und formen die Hände zu Zeichen. Diese Sprache ohne zu sprechen heißt Gebärdensprache, die einzelnen Worte heißen Gebärden.
Die Gebärdensprache ist in Deutschland seit 2002 als eigenständige Sprache anerkannt. Die Deutsche Gebärdensprache, wie sie offiziell heißt, wird von etwa 200.000 Menschen in Deutschland, Luxemburg und Belgien gesprochen.
Man könnte vielleicht denken, die Gebärdensprache sei international. Das ist sie aber nicht. In den USA gibt es zum Beispiel die American Sign Language oder in England die British Sign Language mit ganz eigenen Gebärden und ganz eigenen Grammatiken. In Österreich, wo ja eigentlich auch Deutsch gesprochen wird, gibt es eine ganz eigene Gebärdensprache, die sich an der Französischen Gebärdensprache orientiert.
Selbst die Deutsche Gebärdensprache ist nicht überall gleich. Genau wie in unserer normalen Sprache gibt es Dialekte. So sind Gebärden in Hamburg zum Teil ganz anders als bei uns. Das liegt vor allem daran, dass in Hamburg schon immer besonders viele Gehörlose leben und sich die Sprache dort ganz anders entwickelt hat.
Zwei Mädchen unterhalten sich in Gebärdensprache.
Foto: David Fulmer (CC BY 2.0)
Eine Gebärdendolmetscherin übersetzt live bei einem Konzert.
Du wunderst dich, dass dieser Artikel keine Überschrift hat, obwohl eine Überschrift eigentlich über jeden guten Text gehört? Dieser Text hat in Wirklichkeit auch eine. Es sind die Symbole der Finger über dem Text. Kannst du die Überschrift mithilfe des Fingeralphabets entziffern?
Wie funktioniert die Gebärdensprache?
Die Gebärdensprache besteht wie unsere normale Sprache aus Worten, den Gebärden, und einer Grammatik. Man spricht meistens mit beiden Händen, mit denen man die Gebärden formt und dem Mund, bei dem möglichst genau das eigentliche Wort mit den Lippen nachgebildet wird.
Bei der Gebärde für „Gelsenkirchen“ werden zum Beispiel beide Hände zu einem Kirchendach geformt und dabei „Gelsenkirchen“ mit den Lippen stumm „gesprochen“. Viele Gebärden orientieren sich an der Tätigkeit, die sie beschreiben. Bei der Gebärde für „Auto fahren“ wird so getan, als habe man ein Lenkrad in der Hand, bei „essen“ führt man die Hand zum Mund.
Das ist aber nicht immer so. Manche Gebärden erschließen sich nicht sofort und müssen einfach gelernt werden wie Vokabeln im Englischunterricht.
Du möchtest ein paar einfache Gebärden lernen? Auf YouTube gibt es viele Videos für Anfänger, such‘ einfach mal nach „Gebärdensprache für Anfänger“. Oder du lädst dir die App „Spread the Sign“ herunter. Das ist ein Wörterbuch, in das du Wörter eingeben kannst und das dir dann in kurzen Videos die Gebärde in mehreren Sprachen zeigt. Deinen Namen suchst du dir selbst aus oder du bekommst einen verpasst.
Die Gebärdensprache hat auch ein eigenes Alphabet. Für jeden Buchstaben gibt es ein eigenes Zeichen, das mit einer Hand geformt wird. Die Buchstaben werden immer dann benutzt, wenn es für etwas keine eigene Gebärde gibt oder es sich um Eigennamen handelt, zum Beispiel auch dein Name.
Wenn du dich bei Fremden in Gebärdensprache vorstellst, buchstabierst du deinen Namen mit den Fingern. Menschen, die sich näher kennen, zum Beispiel Familie oder Freunde, geben sich gegenseitig aber meistens eigene Gebärden, anstatt jedes Mal den Namen zu buchstabieren. Hast du zum Beispiel besonders lockige Haare, könnte die Gebärde für dich kreisende Bewegungen um den Kopf herum sein. Wachsen deinem Opa Haare aus den Ohren, könnte das zu seinem Gebärdennamen werden.
Maskenpflicht – für viele Gehörlose ein Problem
Generell gilt, dass Augenkontakt und Mimik beim Sprechen der Gebärdensprache sehr wichtig sind. Gebärdensprache ist also praktisch, weil man sich sogar in sehr lauten Räumen oder mit vollem Mund unterhalten kann. Andererseits kann man sich nicht unterhalten, wenn man gerade die Einkaufstaschen nach Hause trägt.
Und weil den Mund zu bewegen bei der Deutschen Gebärdensprache so wichtig ist, war die Maskenpflicht während der Corona-Pandemie für viele Gehörlose bei uns ein Problem. Wenn durch die Maske der Mund verdeckt ist, kann es beim Gebärden zu Missverständnissen kommen. So ist zum Beispiel die Gebärde für „Bochum“ die gleiche wie für das Wort „Arbeit“, weil Bochum immer als Stadt harter Arbeit galt. Ob du „Ich fahre nach Bochum“ oder „Ich fahre zur Arbeit“ sagst, unterscheidet sich also nur durch die Lippenbewegungen.
Deshalb wurden für Gehörlose extra Masken mit einem Sichtfenster vor dem Mund erfunden. Die funktionieren aber auch nicht gut, weil sie meistens nach kurzer Zeit beschlagen sind.
Sei erfinderisch
Wenn du keine Gebärdensprache kannst, schaffst du es mit Sicherheit mit Freundlichkeit und Offenheit, dich trotzdem mit einer gehörlosen Person zu unterhalten. Du kannst deine Umwelt nutzen, auf Dinge zeigen oder dich in Pantomime ausprobieren, dann wird man dich verstehen. Und wenn du ein paar Vokabeln kennst, dann machst du mit einem einfachen „Danke“ oder „Bitte“ dein Gegenüber sehr glücklich.
MIT FREUNDLICHER BERATENDER UNTERSTÜTZUNG VON ANIKA HAUSWURZ