Schlotgraugolden

Reisen in entschwundene Zeiten – Über die Literatur Gelsenkirchens – Ein Besuch im Museum für Westfälische Literatur in Oelde

von Astrid Becker

Als Gelsenkirchens wirtschaftliche Prosperität im Sinkflug dem Exitus entgegenraste, stieg, einem letzten Aufbäumen gleich, eine Szene aus den ersten sterblichen Überresten des einstigen Arbeitermilieus: Die Literatur.
Ende der 1960er Jahre, Umbruch-Zeiten, Demos, Hippie-Glück, und in Gelsenkirchen erklomm das geschriebene Wort das Licht des Tages, ein Licht, das sich immer mehr Bahn brach, je weniger die Schlote der Arbeit den Himmel verdunkelten. Literatur für eine aussterbende Spezies. Arbeiter-Literatur.
Die Szene, sie fand sich in der „Literarischen Werkstatt“, eine der frühesten ihrer Art in Deutschland, begründet vom Lyriker und Bibliothekar Hugo Ernst Käufer, dem vom Leiter der Volkshochschule Dr. Rainer Kabel und dem (vor nicht allzu langer Zeit in der isso. mit einem Text vertretenen) Schriftsteller Detlef Marwig. Nicht alle waren Arbeiter, nicht alle wollten auf immer Arbeiterliteraten sein – und doch: Die Kultur des Arbeiters fand sich in Gedicht und Text und Duktus, und der Arbeiter fand sich bei Lesungen.
Die „Szene“, bestehend aus stets neu dazukommenden Schreibenden, stellte sich dem hyperkritischen Publikum, rauchte, diskutierte, trank, dichtete, liebte, entwarf, verwarf und wurde: Ilse Kibgis (1928-2015), Michael Klaus (1952-2008), Klaus-Peter Wolf (1954). Namen, die keiner kannte, mit Texten, die überzeugten, irgendwann auch über Gelsenkirchen hinaus. Autoren, die wurden, heißen und hießen, dazu kamen die Älteren, Solitäre und doch Gelsenkirchen zugehörig:
Richard Limpert (1922-1991), der ebenso kürzlich einen Platz in der isso. fand, des Weiteren und dabei aus dem fernen Afrika rapportierend, das Original Jürgen Schimanek, – und der Bühnenkünstler und Autor Heinrich Maria Denneborg, Schöpfer des Kinderbuches „Das Eselchen Grisella“, tourte weltweit mit seinem Puppenspiel, und diese und jene, die sich hier nicht alle aufführen lassen, weshalb weiterführende Links auf www.isso-online.de versammelt sind.
Versammelt sind Gelsenkirchener Literatinnen und Literaten in Wort und Kunstwerk bei der im Erbdrostenhof zu Münster beheimateten Literaturkommission für Westfalen unter der Leitung von Professor Dr. Walter Gödden. Die von ihm herausgegebene Reihe „Nylands Kleine Westfälische Bibliothek“, erschienen im Bielefelder Aisthesis Verlag, umfasst Schreibende aus ganz Westfalen. Da finden sich dann auch ein Franz Josef Degenhardt, ein Engelbert Kaempfer und ein Carl Arnold Kortum ein.
Westfalen, Du Land der Dichter*innen, möchte man angesichts dieser schieren Menge an Literat*innen rufen, deren Namen wohl selten an der Öffentlichkeit Ohr dringen.
Sucht man jedoch in Gelsenkirchen nach einem Ort, der diese literarisch hochproduktive Zeit angemessen würdigt, sucht man vergebens. Man muss schon den Kopf heben und nach Oelde-Stromberg auf das Museum für Westfälische Literatur im Kulturgut Haus Nottbeck schauen, will man Gelsenkirchener Autoren und ihre Werke – museal und adäquat aufbereitet – betrachten:
Man starte in Buer, nehme die Autobahn N° 2 und ihre Abfahrt 22 in Herzebrock-Clarholz und navigiere sich in Richtung „Kulturgut Haus Nottbeck“.
Besitzt man kein vierrädriges Gefährt oder keinen, der einen mitnimmt, ist diese Gelsenkirchener Literatur-Versammlung an der Landrat-Predeick-Allee 1 so gut wie verloren – es gibt keinen Anschluss unter dieser Allee an den öffentlichen Nahverkehr. Für all diejenigen, die von diesem Problem betroffen sind, will dieser Artikel Trost und Pflaster sein.
Vielleicht ließe sich jedoch auch angesichts dieser Misere etwas organisieren, eine Bus- und Kaffeefahrt der Stadt Gelsenkirchen beispielsweise, um den fern der Heimat präsentierten Autoren einen Besuch an einem Ort abstatten zu können, der mit seinen Ausstellungen und Veranstaltungen seit fast zwanzig Jahren immerhin 25.000 Menschen im Jahr anzieht und damit für die westfälische (und eben auch die Gelsenkirchener) Literaturhistorie eine große Bühne darstellt – Ideen sind gefragt.

Die Idee, an dieser Stelle ein Literaturmuseum zu etablieren, stammt von dem schon genannten Professor Walter Gödden, der das Konzept entwickelte, einen Präsentationsraum für Literatur aus Westfalen zu schaffen: Die Literatur selbst solle zu Wort kommen, umrahmt vom kultur- und sozialgeschichtlichen Kontext – in optisch so ansprechender Weise, dass Lust auf mehr Literatur entstünde, so der Kulturmanager des Kulturgutes Haus Nottbeck, der Hertener Kulturwissenschaftler Dirk Bogdanski.
Und hätte eben dieser Herr Bogdanski kein Seminar zur praktischen Literaturvermittlung angeboten, das einen Besuch im Literaturmuseum auf Haus Nottbeck vorsah, wäre dieser Ort wohl auch an der Autorin, der isso. und möglicherweise einem nennenswerten Teil Gelsenkirchens vorbeigeschwebt.
Gut, dass es nicht soweit gekommen ist!
Und damit überlassen wir dem Schöpfer dieser Institution, Professor Dr. Walter Gödden, das Wort:

isso.: Herr Gödden, woher stammt Ihre besondere Beziehung zur Gelsenkirchener Literaturszene?

Walter Gödden: Ich habe Annette von Droste-Hülshoff-Forschung betrieben, rund zehn Jahre lang ihre Werke editiert, beispielsweise Handschriften entziffert und in diversen Bänden herausgegeben, und als es sich abzeichnete, dass die historisch-kritische Edition nun abgeschlossen sein würde, habe ich das Themenspektrum erweitert. Den Landschaftsverband konnte ich dafür gewinnen, ein Referat Literatur zu gründen, und im Rahmen dieses Referats ging es dann eben nicht mehr nur um Droste-Hülshoff, sondern um das weite Feld der westfälischen Literatur. In diesem Zusammenhang habe ich in Zusammenarbeit mit einer Kollegin ein vierbändiges Lexikon erstellt, in dem über 2.000 westfälische Autorinnen porträtiert werden. So eine positivistische Bestandsaufnahme zur Literatur der Region gab es bis dato nicht. Die Menge war für uns alle überraschend…
Es stellt sich dann natürlich die Frage, welchen Literaturbegriff man anlegt. Der bildungsbürgerliche Kanon ist sehr begrenzt, und da ich von Hause aus umfassend literarisch interessiert bin, hat es mich einfach neugierig gemacht, was diese Menschen, die da schreiben, für Themen aufgegriffen haben. Das hat sich dann immer mehr erweitert, es gibt auch eine mehrbändige Zeitschrift dazu, in der Kolleg*innen ihre Aufsätze veröffentlichen: „Literatur in Westfalen“.
Dazu kamen dann noch Ausstellungen und ein Problem: Wenn man Ausstellungen konzipiert, muss man sich am Schluss fragen, was man mit all den Stellwänden macht – in der Regel werden sie einfach entsorgt. Das war für mich aber immer ein Graus.
So wuchs daraus die Idee eines Museums. Ich hatte Glück, dass ich auch dafür den Landschaftsverband und Stiftungen gewinnen konnte, die dann Gelder zur Verfügung stellten, und so ist dann Nottbeck vor zwanzig Jahren entstanden. Parallel dazu auch noch die Reihe „Nylands Kleine Westfälische Bibliothek“ (und viele weitere Publikationen, Anm. d. Red.), und so lief Gelsenkirchen schon immer mit.

Gibt’s da jemanden, den Sie besonders schätzen?

Riesigen Spaß hatte ich mit Schimmo (Jürgen Schimanek *1939, Anm. d. Red.), auch wenn er zuweilen sehr anstrengend sein konnte – wir haben nach seinem Tod (1. November 2014, Anm. d. Red.) in einer Hauruckaktion noch so eben gerade seinen ganzen Nachlass aus der Wohnung gerettet. Aus diesem Fundus habe ich dann noch einmal eine Ausstellung in Nottbeck gemacht – und diese Tierchen hier gehen zurück auf eine Kladde, in die Jürgen Schimanek jeden Tag ein Jahr lang ein Phanstasietier gemalt hat, was sicherlich auch noch im Kontext mit seiner Zeit in Uganda zu sehen ist. Die Tierchen gab es aber nur auf Papier, und so habe ich die Leute vom Naturkundemuseum gefragt, ob sie daraus nicht Modelle machen könnten, die nun in die Welt entlassen wurden: „Seltsame Tiere…“ ein Buch und eine Ausstellung. Dazu habe ich dann unter anderem im März 2019 einen Vortrag im Kulturraum „die flora“ gehalten.
In diesem Zusammenhang gibt es noch eine Sache, die mir am Herzen liegt: Es existieren noch eine Menge derber Texte, von ihm, die kein Mensch kennt, die müsste man veröffentlichen, jedoch mündlich und in Ruhrpottdialekt vorgetragen.
Ein weiterer Berührungspunkt mit Gelsenkirchen war Hugo Ernst Käufer, den ich noch persönlich kennengelernt habe. Es gibt gerade einen neuen Roman von Hilmar Kluthe, in dem Käufer ausführlichst vorkommt. Kluthe ist Feuilletonchef bei der Süddeutschen Zeitung, er füllt das brillante „Streiflicht“ auf der Titelseite. Das neue Werk, „Was dann nachher so schön fliegt“, nach einem Vers von Peter Rühmkorf, lässt Hugo Ernst Käufer also auch in der großen Literaturwelt weiterleben.
Käufers Verdienste jedoch liegen neben seinen eigenen Texten vor allem darin, die „Literarische Werkstatt Gelsenkirchen“ begründet und Autoren in Anthologien aufgenommen zu haben – und das alles hat wiederum viele animiert, selbst zu schreiben.
Ein anderer, G. F. Unger (1921-2005) wurde von Gelsenkirchen aus zu einem der bekanntesten Western-Autoren, mit über 700 Western und einer Auflage von über 250 Millionen. (Der einzige deutsche WesternAutor übrigens, dessen Werke in den USA veröffentlicht wurden. Anm. d. Red.) Ich bin übrigens bekennender Fan von Heftromanen und Trash, wie auch Michael Klaus, der ähnlich gedacht hat.

Was ist denn Trash in Ihren Augen?

Trash ist für mich Massenliteratur, so wie die Readymades in der Bildenden Kunst – also Heftchenliteratur, vermeintliche Schundliteratur, Literatur, die Instinkte bedient und keinen Anspruch erhebt. Unser Schimmo hat auch ein Trash-Heft gemacht, „Lisas Liebe“ und, wie es bei ihm so ist, ultra-schräg: „Na komm, Babette“ – man kann es nicht lesen. Danach hat man ihn ja auch aus dem Verlag herausgeschmissen, das Buch war einfach zu versaut. Otto Jägersberg, ein sehr spannender Autor, der für den WDR gearbeitet hat, hatte das vermittelt und Jürgen Schimanek hatte danach nur noch geschrieben, geschrieben und geschrieben, unter anderem auch für die taz. Er kam erst mit 50 Jahren nach Gelsenkirchen, nach seiner Zeit in Uganda* als WDR-Redakteur.

Gelsenkirchen war einst also die Stadt der Dichter und Schriftsteller sowie die Heimat mehrerer Bestseller-Autoren – wie sieht es heutzutage aus?

Riesig bekannt ist natürlich der gebürtige Gelsenkirchener Klaus-Peter Wolf, aber der sitzt hoch oben im Norden, im ostfriesischen Norden, und schreibt jedes Jahr einen neuen Ostfriesenkrimi. Das ist sicherlich der Bekannteste. Ansonsten fällt mir spontan niemand ein.

Wie genau verlief die Entwicklung zur damals derart prosperierenden Literaturszene?

Die Anfänge der Literarischen Werkstatt unter Ernst Hugo Käufer liegen im Jahr 1968, es gab in Dortmund die „Gruppe61“, und der dort tätige Fritz Hüser ertrank quasi in Manuskripten und hat diese dann an die VHS Gelsenkirchen weitergegeben. Die VHS rief daraufhin einen Wettbewerb aus, es gab Geld dafür, und man begann, in Stadtbüchereien und Jugendheimen erste Lesungen zu veranstalten. Diese wurden in der Presse total verrissen. Sehr gut dokumentiert übrigens, man kann jeden Verriss nachlesen. Das waren alles Hobby-Autoren, die zum ersten Mal vor Publikum gelesen haben. Aus diesem Kreis sind dann aber immer wieder Autoren hervorgegangen, die geblieben sind, der Frank Göhre beispielsweise oder eben besagter Klaus-Peter Wolf, der hat mit 18 Jahren als einer der jüngsten die Möglichkeit zur Veröffentlichung bekommen.
Es wurden dann auch Fahrten mit dem Planwagen durch die Stadt veranstaltet, Lesungen im Kaufhaus, Veranstaltungen wie Karneval – von einer Bühne herunter, alles war Spektakel und darum ging es denen auch, es war Provozierendes dabei, es ging darum, Literatur zum Event zu machen. Das ist ihnen auch gelungen, das Fernsehen war vor Ort, der Rundfunk sendete mehrere Berichte…

Wohin ist das alles entschwunden?

Irgendwann wollte man nicht mehr nur für die Literarische Werkstatt schreiben, man hat sich auf seine eigenen „Inseln“ zurückgezogen, dazu kam, dass sich die Werkstattbewegung auch politisch auseinanderlebte, ein Kapitel für sich übrigens. Es gibt sie heute noch, hat aber an Bedeutung eingebüßt. Diverse Autor*innen sind weggezogen, und Michael Klaus wollte nie als Arbeiterdichter verschrien sein, nie und nimmer. Obwohl er natürlich dieses Themenspektrum auch aufgreift, aber man wollte sich eben auch von diesem Etikett emanzipieren.

Wo steht das Buch am Beginn dieses neuen Jahrzehnts?

Ich sehe das eher skeptisch. Es gibt so etwas wie einen Boom in bestimmten Bereichen, aber was anspruchsvolle Belletristik angeht, hat diese einen Marktanteil von 2%. Sachbücher gehen, aber ich sehe, dass gerade im wissenschaftlichen Bereich ein Verlag nach dem anderen die Segel streicht und Autoren keine Verlage finden. Es gibt dafür jetzt Blogs ohne Ende, jeder hat seine eigene Webseite. Die Literaturlandschaft der Region hat es schwer. Ich habe eine eigene Buchmesse auf Nottbeck, „text & talk“* und da sieht man ganz deutlich, dass das immer weniger wird mit den kleinen Verlagen. Es gibt aber immer noch die Lust am Selberschreiben: Ich habe jetzt wieder ein kleines Stück zum Thema Science Fiction verfasst, da hat man dann mit Schauspielern und mit Musikern zu tun – das sind dann so die schönen Momente, in denen Literatur aus den Buchdeckeln heraustritt.

Wir danken Professor Dr. Walter Gödden und Dirk Bogdanski für die Gespräche und ihre Arbeit!

Das 2001 eröffnete Museum für Westfälische Literatur befindet sich auf dem ehemaligen Rittergut Haus Nottbeck zwischen Oelde und Rheda-Wiedenbrück. Im Erdgeschoss der Dauerausstellung wird die Geschichte der westfälischen Literatur von ihren Anfängen bis 1900 gezeigt, im Obergeschoss werden regionale Autoren vorgestellt, während der Keller der westfälischen Kinder- und Jugendliteratur gewidmet ist. Neben Wechselausstellungen ist das Kulturgut Haus Nottbeck Ort für Veranstaltungen aller Art wie Autorenlesungen, Konzerte sowie Ferienakademien und Tagungen zu Literaturthemen. Auch Übernachtungsmöglichkeiten stehen zur Verfügung. Foto: Stefan Ziese, NRW-Stiftung

Der international erfolgreiche Kinderbuchklassiker „Das Eselchen Grisella” (1955) des Gelsenkircheners Heinrich Maria Denneborg ist natürlich ebenfalls auf Nottbeck vorhanden.

Nur einige wenige der zahlreichen Publikationen der Literaturkommission Westfalen…

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