Denise Klein: Frau Lamest, Sie sind jetzt drei Monate an Ihrer neuen Wirkungsstätte in Gelsenkirchen. Welchen ersten Eindruck hatten Sie in den ersten Tagen von dieser Stadt?
Andrea Lamest: Dass es wahnsinnig viele engagierte Leute hier gibt, die viel für die Stadt tun möchten. Gerade in Sachen Kultur. Und natürlich ist mir schnell positiv aufgefallen, dass die Menschen in Gelsenkirchen sehr kommunikativ sind.
DK: Sie kommen aus der Oberpfalz, zumindest haben Sie dort einige Jahre das Oberpfälzer Künstlerhaus in Schwandorf geleitet.
Ich komme gebürtig aus Trier, und habe zuletzt zwölf Jahre in Bayern gelebt. Davon die letzten sechs Jahre in der Oberpfalz. Aber ich habe schon so einige Stationen durchlaufen. Ich habe in der Ukraine, in Ludwigsburg, 13 Jahre in Bremen, im Westerwald und in Holland gelebt.
DK: Bremen hat im ZDF-Ranking wie Gelsenkirchen einen der letzten Plätze in Sachen Lebensqualität belegt. (Bremen Platz 351, GE Platz 401, Anm. der Redaktion) Die sozialen Rahmenbedingungen sind ähnlich. Sehen Sie aus ihrer Erfahrung heraus Ähnlichkeiten?
Das kann man nur differenziert sehen. Natürlich haben Gelsenkirchen und auch Bremen Probleme, die es in anderen Kommunen so vielleicht nicht gibt. Aber gemeckert wird überall. Ich finde es wichtig, den Fokus auf die Stärken dieser Stadt zu richten. Man muss selbstverständlich alles benennen, was nicht gut läuft, denn sonst kann man nichts ändern. Aber was ich in all den vielen Gesprächen der letzten Wochen erfahren habe, ist, dass die meisten hier gestalten wollen.
DK: Welche Rolle spielen Sie und das Kulturreferat bei diesem Gestaltenwollen?
Wir haben Kulturleitlinien, die in unserem Rahmen gut fassen. Wir können natürlich als Kulturreferat die Gesamtsituation als solches nicht beheben. Aber das, was in unserer Macht steht, werden wir zur Stadtgesellschaft beitragen.
DK: Sie selbst sind in der bildenden Kunst zuhause. Können Sie nach der ersten Sichtung des hiesigen Kulturlebens schon eine Richtung erkennen, die es besonders nötig hat, unterstützt zu werden?
„…Gelsenkirchen als Kunst- und Kulturstadt nach vorne bringen...“ (Fotos: Ralf Nattermann)
Das kann ich noch nicht sagen, weil ich noch mitten im Prozess des Kennenlernens bin. Ich habe mir gerade einen groben Überblick verschafft. Ich habe über 100 Einzelgespräche mit den unterschiedlichsten Leuten und Interessensvertretern geführt. Schwerpunkte werden sich dann später sicherlich erst herausbilden.
Und natürlich gibt es in Gelsenkirchen Strukturen, Initiativen, Kooperationen und Vereine, die seit Jahren schon aktiv sind. Auch Programme kommen immer mehr hinzu. Beispielsweise die neuen Lichtspiele „Goldstücke“ oder auch die Szeniale, die im letzten Jahr Premiere hatte. Hier passiert eine Menge. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen. Natürlich habe ich eine Leidenschaft für die bildende Kunst. Aber als Privatmensch. Ich bin aber auch musikaffin und bin leidenschaftliche Kinogängerin.
Für mich ist aber die Frage interessant, wie sich die Kultur in den nächsten Jahren nach außen abbilden wird. Damit meine ich nicht nur die Kulturarbeit des Referats, sondern vor allem die Arbeit der Kulturakteure. Das hat meiner Meinung nach Olivier Kruschinski mit seiner Aktion #401GE genau richtig gemacht. Mit wehenden Fahnen voraus.
DK: Sie haben gerade geschildert, wo Sie schon überall gelebt und gearbeitet haben. Neuanfänge scheinen Sie zu reizen?
Nein, nicht zwangsläufig die Neuanfänge, sondern spannende Möglichkeiten. Gerade das Spannungsverhältnis zwischen dem Image dieser Stadt und dem tatsächlich kulturell Geleisteten hat mich motiviert, mich hier zu bewerben. Und Gelsenkirchen als Kunst- und Kulturstadt mit den anderen Akteuren nach vorne zu bringen, das sehe ich als mein wichtigstes Ansinnen.
Michael Voregger: Sie kommen gerade zu einem Zeitpunkt in die Stadt, in der das Problem der Stadt sehr offenkundig geworden ist. Das Kneipensterben wird momentan viel diskutiert. Keine Veranstaltungsorte, keine Szene, keine Lokale, die Innenstadt hat kaum noch Anziehungspunkte gerade für junge, ausgehwillige Menschen. Gibt es seitens des Kulturamts eine Idee, wie man gegen das Wegbrechen vorgehen kann? Vielleicht sogar mit einem soziokulturellen Zentrum?
In der Vergangenheit hat sich das Kulturreferat immer wieder an bestimmten Projekten und Programmen der soziokulturellen Szene wie Konzerten in der Rosi oder dem Sommersound beteiligt oder war sogar Initiator. Mit dem Wunsch nach einem zentralen soziokulturellen Zentrum ist noch niemand auf mich zugekommen. Aber nach meinem ersten Eindruck sehe ich, dass sich sehr viel auf Stadtteilebene abspielt. Das Angebot, das sich in Ückendorf entwickelt, in Rotthausen wird das Volkshaus weiterentwickelt, um gerade von jungen Menschen genutzt werden zu können, sind nur zwei Beispiele. Aber sollte es den Bedarf nach einem gemeinsamen soziokulturellen Zentrum geben, müsste man das referatsübergreifend angehen. Das wäre nicht allein Aufgabe des Kulturreferats. Was mir aber auch schon aufgefallen ist, ist, dass es hier kaum Auftrittsmöglichkeiten für mittelgroße Konzerte gibt. Oder Tanzveranstaltungen. Da sehe ich hier Bedarf. Ich gehe nämlich selbst gern auf Konzerte, und für beispielsweise 300 Leute gibt es keine Location.
MV: Welche Möglichkeiten haben Sie als Leiterin des Kulturreferats?
Das kann ich jetzt seriös nicht beantworten. Ich kenne die Zusammenhänge, die Fallstricke, die Möglichkeiten der einzelnen Örtlichkeiten noch nicht. Aber mir ist absolut bewusst, dass abends die Bürgersteige nicht hochgeklappt werden dürfen. Eine Stadt, und gerade so eine große wie Gelsenkirchen, braucht verschiedene Angebote, damit die Leute abends weggehen können. Aber vergessen darf man nicht, dass man auch hingehen muss und die Wirte existieren lässt. Und da sind wir wieder als Stadtgesellschaft gefragt, jeder einzelne bringt ein Stück Gelsenkirchen nach vorne. Wir als Referat können gewisse Rahmenbedingungen schaffen und Menschen zueinander bringen, Ideen unterstützen und Impulse setzen. Aber getragen wird Kunst und Kultur nur von den Menschen, die sie nutzen und schätzen.
isso: Vielen Dank für das Gespräch.
VITA:
Andrea Lamest (* 1969 in Trier) studierte Freie Kunst und Malerei an der Hanzehogeschool, Academie Minerva, in Groningen sowie an der Hochschule für Künste Bremen. Stipendien führten sie unter anderem nach St. Petersburg und Rostow am Don. Am Institut für Kulturmanagement, Ludwigsburg, schloss sie ein Aufbaustudium Kulturwissenschaft/Kulturmanagement 2004 als Magister Artium ab. Danach nahm sie bis 2007 als Kulturmanagerin im Auftrag der Robert Bosch Stiftung unter dem Motto „Zeitgenössische Kultur aus Deutschland“ eine Neukonzeption des „Bayerischen Hauses“ in Odessa, Ukraine, vor. Anschließend leitete und kuratierte sie bis 2012 hauptverantwortlich das Europäische Künstlerhaus Bezirk Oberbayern „Schafhof“, Freising, sowie zuletzt in gleicher Funktion das Oberpfälzer Künstlerhaus, Schwandorf. Hier nahm sie unter anderen einem Neukonzeption der Druckgrafischen Werkstätten vor.