Die Schule brennt: Unterrichtsausfall und Lehrermangel an Schulen in Gelsenkirchen

An der Mechtenberg-Grundschule in Gelsenkirchen fehlen Lehrerinnen, und deshalb gab es für eine Klasse im letzten Jahr nach den Herbstferien mittwochs keinen Unterricht mehr.
„Seit Anfang des Jahres können wir das wieder komplett abdecken, aber wie das in ein paar Wochen aussieht, weiß ich aktuell nicht“, sagt Godehard Möcklinghoff, Schulleiter der Grundschule. „Letzten Endes habe ich nur drei richtige Vollzeitlehrer, die zur Verfügung stehen. Ansonsten sind es Teilzeitkräfte, Studenten und Seiteneinsteiger. So kann eine vernünftige und kontinuierliche Schulentwicklung natürlich nicht stattfinden“.
Andere Grundschulen in Gelsenkirchen haben ebenfalls große Probleme und beklagen die fehlende Unterstützung durch die Politik. Eine ehemalige Lehrerin
der Grundschule Georgstraße in der Altstadt kritisiert die teilweise unhaltbaren Zustände:
„Wegen der Schwierigkeiten gibt es eine große Fluktuation, und es sind viele Kollegen krank. Vor allem die Lehrer, die zwangsweise hier arbeiten müssen, fehlen dann sehr oft. Hier ballen sich alle Probleme, die Schüler und Eltern haben können. In den Klassen sind mindestens fünf Förderschulkinder mit Lerneinschränkungen und bis zu 20 Kinder, die Deutsch als Zweitsprache haben. Viele Schüler können kaum Deutsch und haben Defizite in der Feinmotorik. Das kann die Schule kaum aufholen.“
Vergleichbare Situationen gibt es mittlerweile an vielen Grundschulen im Süden der Stadt, und es weitet sich aus.
„Viele Eltern sind arbeitslos, und es gibt Probleme mit Alkohol in den Familien. Die Aggression und die Gewalttätigkeit werden auch in die Schule getragen“, beklagt die Pädagogin. „So werden Lehrer beleidigt, und es fliegen auch schon mal Stühle. Regelmäßig hängen die Namen von Vätern am schwarzen Brett, die aus polizeilichen Gründen das Schulgelände nicht betreten dürfen“.
Ein normaler Unterricht ist hier nicht möglich, und die Lernziele der Landesregierung werden nicht erreicht. Eltern, die es sich leisten können, ziehen hier weg oder bringen ihre Kinder auf eine andere Schule. Damit nimmt die soziale Spaltung weiter zu.

An der Grundschule Georgstraße in der Altstadt kulminieren Probleme, mit denen Schulen heute auch anderswo zu kämpfen haben. Foto: Tobias Hauswurz

 

Die Schulen haben einen Grundbedarf an Lehrerstellen, der nach Schüler-Lehrer-Relation verteilt wird. Damit decken sie den laut Stundenplan zu erteilenden Unterricht ab. Sie erhalten darüber hinaus zusätzliche Stellen für besondere Aufgaben und Herausforderungen, die teilweise nach einem Kreissozialindex verteilt werden.
„Ab dem Schuljahr 2019/20 betrifft das voraussichtlich 1.000 Stellen gegen Unterrichtsausfall an Grundschulen, 260 Stellen gegen Unterrichtsausfall an Hauptschulen, 500 Stellen für multiprofessionelle Teams, 1.750 Stellen Förderzuschlag für die flexible Eingangsphase in der Grundschule, 1.000 Integrationsstellen“, heißt es dazu in einer Stellungnahme des Schulministeriums. Den niedrigsten Wert hat der Kreis Coesfeld mit 0,0, und am größten ist die Not in Gelsenkirchen – hier liegt der Wert bei 100,0. Es gibt schon lange die Forderung nach einem anderen und genaueren Verfahren.
„Wir streben an, dass wir im Schuljahr 2020/21 einen schulscharfen Sozialindex zumindest für die Verteilung einiger Stellen erstmals einsetzen können“, sagt Staatssekretär Mathias Richter. „Um mehr Chancen- und Bildungsgerechtigkeit zu erreichen, müssen wir neue Wege gehen und über das bisherige Maß hinaus Stellen nach anderen Kriterien als bisher verteilen. Zusätzliche Ressourcen müssen stärker Richtung Schulen mit heterogener Schülerschaft und schwierigen Verhältnissen gesteuert werden.“
Entwickelt wird der neue Index von Sozialwissenschaftlern der Ruhr-Universität Bochum. Hier wurde schon in einer Studie über fünf Jahrzehnte für NRW die sozialstrukturelle Entwicklung der Stadtteile und die Bildungsbeteiligung der Schüler nachgezeichnet.
„Dabei zeigt sich im Ruhrgebiet eine ausgeprägte Spaltung zwischen den stark vom Bergbau geprägten nördlichen Stadtteilen und den südlichen, eher bürgerlichen Stadtteilen sowie den Großstädten und Kreisen.

Die Autobahn A40 bildet dabei eine sichtbare Trennlinie der sozialen, demografischen und ethnischen Segregation“, sagt Professor Jörg-Peter Schräpler von der Ruhr Universität Bochum. „Wir konnten zeigen, dass die Mehrzahl der Kinder im Ruhrgebiet in sozial benachteiligten Bezirken aufwächst und dass es einen starken Zusammenhang zwischen dem Sozialraum der Grundschulen und der Übergangsquote zum Gymnasium gibt. Wenn die Grundschulen in Bezirken liegen, deren Entwicklung im Verlauf des Strukturwandels von Arbeitervierteln hin zu sozial benachteiligten Bezirken erfolgte, sind die Teilhabechancen der Kinder deutlich geringer als etwa in gefestigt bürgerlichen Bezirken.“

Der Schulhof der Grundschule Georgstraße bietet den Kindern viele Spielmöglichkeiten. Foto: Jesse Krauß

Grundlage für den „schulscharfen Sozialindex“ wird der Standorttyp sein, der schon bei den Lernstandserhebungen zum Einsatz kommt. Dort liegt der Schwerpunkt auf dem Anteil an Schülerninnen in Familien, die Hartz IV beziehen, und Kindern mit Migrationshintergrund oder nichtdeutscher Familiensprache.
„Sie erklären auch einen großen Teil der Unterschiede der Lernstandsergebnisse an den Schulen“, sagt Professor Jörg-Peter Schräpler. „Generell müssen zusätzliche Lehrkräfte eingestellt werden, die dann an Schulen mit ungünstigem Sozialindex verteilt werden. Schulen in schwierigem Umfeld benötigen unter anderem kleinere Klassengrößen und damit mehr Personal sowie zusätzliche Fördermittel.“
In Hamburg gibt es den „schulscharfen Sozialindex“ schon. Hier begnügt man sich nicht mit einer Aufbereitung vorhandener statistischer Daten. Diese werden ergänzt durch die Befragung von Schülern
innen und Eltern. Der Bedarf der einzelnen Schulen kann so genau festgestellt werden, aber es nützt nichts, wenn bei den Bewerbungsgesprächen für die neuen Lehrer*innen niemand kommt. Grundschullehrer sind gesucht, und die Städte der Emscherzone stehen auf der Beliebtheitsskala nicht sehr weit oben.

*der Name der Lehrerin ist der Redaktion bekannt

 

KOMMENTAR:

Ein neuer Index wird die Probleme an den Schulen in Gelsenkirchen nicht lösen, denn es gibt nicht genug Lehrerinnen im Land. Eine ausgebildeter Grundschullehrerin kann sich seineihre Stelle heute aussuchen. Gelsenkirchen ist da nicht die erste Wahl. Für Berufsanfänger sind die „Problemschulen“ eine Herausforderung, und da ist die Arbeit im Münsterland angenehmer. Zudem hat Gelsenkirchen einen schlechten Ruf und bietet bei der Lebensqualität bestenfalls Durchschnitt. Die weichen Standortfaktoren wie Kulturangebot, Einkaufsmöglichkeiten, Lage, Freizeitmöglichkeiten und Bildungsangebot sind nicht verlockend. Mittlerweile steigen sogar die Mieten, und es gibt immer weniger gute Wohnungen.
Nach Meinung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft herrscht bei der Bekämpfung von Bildungsarmut kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsdefizit. Bildungspolitik ist keine kurzfristige Angelegenheit, und so trägt die abgelöste rot-grüne Landesregierung einen großen Anteil an der desolaten Situation.
Um etwas gegen den Lehrer
innen-Mangel zu tun, muss umverteilt werden. Neue Lehrerinnen müssen ausgebildet und eingestellt werden. Die Schulen in schwierigem Umfeld benötigen kleinere Klassengrößen, und die sollten durch zwei Lehrerinnen unterrichtet werden. Sozialpädagogeninnen und Integrationshelferinnen gehören an jede Schule. Das wird eine Zeit dauern und kostet Geld, selbst wenn der politische Wille vorhanden ist. Bis dahin ist zu befürchten, dass die Einführung eines „schulscharfen Sozialindex“ den Schultourismus weiter fördern wird. Bildungsorientierte Eltern werden ihren Nachwuchs durch die ganze Stadt fahren, um eine Schule mit den besten statistischen Werten zu erreichen.

 

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