Virtuell und geteilt
Das Zauberwort Digitalisierung
von Prof. Dr. Frank Eckardt
Augmented, Smart, Virtuell: Die Zukunft der Stadt wird verlockend mit technischen Vokabeln beschrieben. Über die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die Gesellschaft wäre eine kontroverse Debatte dringend nötig, denn die erwarteten Veränderungen in der Arbeits- und Lebenswelt können ansonsten ein böses Erwachen aus den süßen Technik-Träumen bedeuten.
Digitalisierung ist zu einem Zauberwort geworden. Mit den Techniken der Augmented Reality und Big Data wachsen die Träume von der „virtuellen Stadt“ in den Himmel. Mit dem sprechenden Kühlschrank, der selbstregulierenden Bodenheizung, den AR-Brillen und dem „ubiquitous computing“ haben bereits viele Innovationen der Informations- und Kommunikationstechnologie in Windeseile Einzug in unser Alltagsleben erhalten. Nun scheinen wir an der nächsten Schwelle der technischen Innovation unserer Gesellschaft zu stehen. Es verschränken sich technologische Entwicklungen aus bis lang getrennt gedachten Bereichen. Robotik, Bionik, Neurologie und viele andere Wissenschaftsfelder erlauben einen Quantensprung in unserer Vorstellung der technischen Möglichkeiten. Vielleicht das gespenstischste Vorhaben scheint Facebook anzuvisieren, indem es von Sprach- auf Gedankensteuerung umschalten will. „Wirtschaft 4.0“ ist noch lange nicht das Ende.
Und die Städte sollen mit Energie-Effizienz, Ressourcenschonung, Mobilitätssteigerungen, erhöhtem Wohnkomfort und schnellen Kommunikationsstrukturen davon am meisten produzieren. Smart city heißt die Lösung. Doch wie werden sich diese technischen Innovationen auf die bestehenden sozialen Beziehungen in den real existierenden Städten auswirken?
Zu dieser Frage fällt zunächst auf, dass sie niemand stellt. Wurden technische Innovationen im 20. Jahrhundert noch wegen ihrer ökologischen Kosten, ob ihrer Nebeneffekte und Folgekosten kritisch diskutiert, so wird dies heute – weil die virtuelle Stadt angeblich ja auch nachhaltig und klimafreundlich ist – vollkommen ausgeblendet.
Die gesellschaftlichen Folgen der „virtuellen Stadt“ lassen sich dennoch erahnen: Viele Arbeiten in der Niederiglohn-Ökonomie vom Taxi-Fahrer bis zur Erzieherin werden entfallen. Was aus den Arbeiter(inne)n werden soll, kümmert anscheinend niemand wirklich. Studien hierzu, u. a. von der OECD, prophezeien eine Zunahme von Arbeitsplätzen. Das mag sein, aber sie werden vor allem für die Gutausgebildeten zur Verfügung stehen. Sollte es zu fahrerlosen LKW kommen, würden etwa zwei Millionen Menschen in Europa ihre Arbeit verlieren. Ähnliche Job-Verluste drohen Branchen wie der Logistik, der Pflege, dem Einzelhandel, der Industrie-Arbeit im Allgemeinen.
Politisch wird im Moment nur auf die drohende strukturelle Arbeitslosigkeit reagiert, indem von manchen Politikern ein Grundeinkommen gefordert wird. Im Übrigen wird dies auch von großen Unternehmen begrüßt, bei denen diese Rationalisierungsprozesse anstehen. Sie fürchten eine Art Maschinensteuer und finden es besser, dass die Allgemeinheit über Steuern die Kosten für die zu Entlassenden auffängt. Doch egal, ob Staat oder Unternehmen die Arbeitslosen alimentieren, die Problematik der virtualisierten Gesellschaft wird damit zu kurz gefasst. Wohlstand ohne Arbeit mag verlockend, paradiesisch klingen. Doch Fragen nach der individuellen Lebensgestaltung und Sinngebung, nach Einflussmöglichkeiten und Macht, Entscheidungsspielräumen und Abhängigkeiten sind damit nicht geklärt. Im Gegenteil, ohne das Positionsfeld Arbeit werden sich verschärfen.
Der „Digital Divide“, also die Trennung zwischen denen, die an der virtuellen Stadt teilnehmen können, und denen, die in der analogen Wirklichkeit arbeiten, wohnen, einkaufen und leben müssen, wird sich nicht nur wegen der Neustrukturierung des Arbeitsmarktes vergrößern. Es wird großen Teilen der Stadtbevölkerung über kurz oder lang gelingen, an der virtuellen Kommunikation teilzunehmen und diese auch für sich zu nutzen. Allerdings wird ihnen auch nichts anders übrig bleiben, denn analoge Angebote entfallen oder werden wie Barzahlungen in China und den USA sozial verachtet werden. Die Trennlinie geht durch Klassenzimmer, in denen einige sich kein Mobile Phone leisten können, oder nicht das Neuste jeweils, und deshalb nicht das Upgrade laden können, um an den sozialen Kontakten weiter teilhaben zu können. Die Trennlinie geht durch Wohnbereiche, die verkehrstechnisch Anschluss haben an fahrerlose Angebote und in denen selbstregulierte Wohnungen zum Standard werden, und anderen, die peripherisiert und somit im Unterhalt und in der Erreichbarkeit teurer werden.
Das Paradoxe der virtuellen Stadt ist aber die Verknappung des Analogen und Authentischen, das „Reale“ wird zur teuren Ausnahme. Die virtuelle Stadt wird eine hochgradig angreifbare und störanfällige Stadt sein. Schon jetzt werden Krankenhäuser und fahrerlose Autos gehackt, fallen Heizungen in virtuell gesteuerten Häusern aus und sind die Stromnetze überbelastet.
Je mehr urbane Lebensbereiche sich vernetzen, desto größer ist auch die Schadensdiffusion. Ein Leben ohne Teilhabe an diesen Virtualisierungen kann sich nur leisten, wer nicht davon abhängig ist – finanziell, sozial und psychisch. Die neue soziale Trennlinie in der Stadt zeichnet sich hier ab: Nur wer materielle wie immaterielle Ressourcen hat, um auch offline (glücklich) leben zu können, kann diese Abhängigkeiten selbstbestimmt gestalten.
Der gebürtige Gelsenkirchener Prof. Dr. Frank Eckardt ist promovierter Politikwissenschaftler und Professor für sozial-wissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar, an der er u. a. im Studiengang MediaArcitecture unterrichtet. Seit mehr als zehn Jahren untersucht er Themen der „medialisierten Urbanität“. Zusammen mit Alain Bourdion und Andrew Wood hat er 2014 das Buch „Die ortlose Stadt: Die Virtualisierung des Urbanen“ im transcript-Verlag, Bielefeld, veröffentlicht.
Der Text „Virtuell und geteilt“ ist bereits in der Zeitschrift „Polis – Magazin für Urban Development“ erschienen. Wir danken für die freundliche Überlassung.