Klima, Mobilität und Todesstreifchen

Das Jahr 2019 sollte in Gelsenkirchen der Wendepunkt in der Verkehrspolitik werden – so eine Art Zeitenwende im Kleinen. Auf der von Autos stark befahrenen De-la-Chevallerie-Straße wurde ein sogenannter Fahrradschutzstreifen auf die Fahrbahn gemalt. „Wir haben überlegt, wie man den Radverkehr auf der Straße sicher leiten kann“, erklärte der städtische Radverkehrsbeauftragte Stefan Behrens damals und war auch von der blauen Farbe des Streifens angetan. „Wir haben uns bewusst dafür entschieden, damit er besser sichtbar ist.“
Das Ziel war die Sicherheit für die Radfahrer und die Förderung des umweltfreundlichen Radverkehrs in der Stadt. Die Farbe ist inzwischen verblasst, und das gilt auch für die Verkehrswende in der Stadt. Das Konzept der Verwaltung stand von Beginn in der Kritik. Der „Schutzstreifen“ für Radler, ist durch eine gestrichelte Linie gekennzeichnet und Autos dürfen den Streifen „bei Bedarf überfahren“, was sie regelmäßig tun. In Belgien heißen diese Schutzstreifen „Moordstrookje“ – in der deutschen Übersetzung Todesstreifchen. Zwar hat es in Buer keine schweren Unfälle gegeben, aber im November letzten Jahres wurde aus der gestrichelten eine durchgezogene Linie. Aus dem „Fahrradschutzstreifen“ wird dadurch ein Radfahrstreifen. Der ist kein Bestandteil der Fahrbahn mehr und darf deshalb von Autos nicht überfahren werden. Das macht die Straße an diesen Stellen jetzt zu einer einspurigen Angelegenheit.

Der Verwaltung war das Gefahrenpotenzial für die Radfahrer auf der De-la-Chevallerie-Straße die ganzen Jahre bekannt. So gab es beim Referat „Sicherheit und Ordnung“ und der Polizei erhebliche Bedenken gegen die Planungen. „Die aktuellen Beobachtungen zeigen, dass die neue Aufteilung bereits von den meisten gut angenommen wird“, gab sich Bettina Lenort, Leiterin des Referats Verkehr, zuversichtlich. „Die Planungen ermöglichen die gleiche Leistung wie zuvor. Allerdings zeigen Erfahrungen aus anderen Städten, dass Schutzstreifen für eine Beruhigung des Verkehrs sorgen.“


Nach Einschätzung der Polizei kann die Sicherheit dagegen nur durch eine einspurige Verkehrsführung für die Autos verbessert werden. Der jetzt umgesetzte Radstreifen würde demnach zwar die Hemmschwelle zum Überfahren senken, aber die Konflikte mit dem motorisierten Verkehr verschärfen sich.

Was im Kleinen nicht funktioniert, könnte mit einer größeren Lösung vielleicht zum Erfolg führen. Dazu gehört der Masterplan Mobilität der Stadt Gelsenkirchen, der im April 2019 von Verwaltung und Politik auf den Weg gebracht wurde. „Der Masterplan Mobilität gehört mit zum neuen Klimakonzept und soll ebenfalls 2022 beschlossen werden. Noch nie wurde das Thema Mobilität so umfassend in unserer Stadt betrachtet. Der Masterplan ist unser ambitioniertes Arbeitsprogramm für die kommenden zehn bis 15 Jahre“, erklärte Oberbürgermeisterin Karin Welge im Januar 2022. „Wir zielen auf bessere öffentliche Angebote eine klügere Verkehrslenkung, mehr Radverkehr, mehr Digitalisierung, eine bessere Vernetzung und Anbindung mit unseren Nachbarstädten.“ Beauftragt wurde die Agentur „Planersocietät“ aus Dortmund, und die hat jetzt einen 414 Seiten starken Plan mit konkreten Vorschlägen zur Einsparung von schädlichen Klimagasen und zur nachhaltigen Mobilität vorgelegt. Gekostet hat das Projekt bisher 398.500 Euro.

Masterplan Mobilität

„Auch restriktive Maßnahmen für den motorisierten Individualverkehr, wie eine intensive Parkraumbewirtschaftung durch Erhöhung der Gebühren und einer Verknappung des Parkraumangebots im öffentlichen Raum, die Umsetzung autoarmer Zentren oder Stadtteilzentren, flächige Geschwindigkeitsreduktionen auf Tempo 30 auch auf innerstädtischen Hauptverkehrsstraßen können, sofern politisch unterstützt, die Maßnahmenintensität und deren Wirkungen deutlich erhöhen und beschleunigen.“

An der politischen Unterstützung fehlt es bisher, denn die Koalition aus SPD und CDU tut sich schwer mit den Ergebnissen des Masterplans. Der Plan sollte der Leitfaden für die Verkehrswende in der Stadt werden und sich von der Dominanz des Autoverkehrs verabschieden. Doch im Verkehrs- und Umweltausschuss wurden von den Koalitionären so viele Änderungen vorgenommen, dass von einem großen Wurf nicht mehr viel übrigbleibt. Zwar spricht der SPD-Fraktionsvorsitzend Axel Barton von einem „epochalen Werk“, aber die Äußerung der verkehrspolitischen Sprecherin der CDU Laura Rosen macht klar, wohin die Reise gehen soll: „Wir wollen einen Ausbau der umweltfreundlichen Verkehrsmittel, aber möglichst keine Einschränkung für das Auto – und wenn, dann nur mit Augenmaß.“

Abstellplätze für Räder im Quartier werden im Masterplan als Baustein für eine bessere Radinfrastruktur genannt. Denn die Räder müssen auf die Straße gebracht werden. In Dortmund gibt es 21 Fahrradhäuser, wo die Bürger ihren Drahtesel unterstellen können. Bezahlt mit eigenem Geld der Nutzer und Mitteln aus dem Stadthaushalt. In dicht besiedelten Innenstadtbereichen erleben Radbesitzer oft vergleichbare Probleme wie PKW-Besitzer, ausreichende Flächen für das Abstellen des Fahrzeugs in Wohnungsnähe fehlen. Kellerräumlichkeiten sind zu klein, Flure zu eng und Treppen behindern den Transport von Rädern. Hier schaffen die „Fahrradhäuschen“ Abhilfe. In Gelsenkirchen steht bisher kein einziges Fahrradhaus. Initiativen und Anträge von Bürgern, ein Modellprojekt zu erstellen, versickern in den Mühlen der Stadtverwaltung und werden nach jahrelangem Verzögern der Verwaltung von der Mehrheitsfraktion abgelehnt.

Oberbürgermeisterin Karin Welge hat im Januar 2022 die Bürger aufgefordert, sich zu beteiligen und ihren Alltag zu gestalten: „In diesem Jahr erarbeiten wir für dieses Projekt die Grundlagen. Wie es sich für eine funktionierende Bürgerbeteiligung gehört – direkt von Beginn an gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern.“ Die erste Bürgerin der Stadt hat sich die Verkehrswende als ihr Projekt ausgesucht. Es wäre an der Zeit dieses „ambitionierte Arbeitsprogramm“ auf den Weg zu bringen.


Der Kommentar
Die Farbe auf den Fahrradstreifen in Buer ist abgeblättert, und das Blau ist verblasst. Genauso blass sind die Maßnahmen zur Mobilität von Politik und Verwaltung in Gelsenkirchen. Papier ist bekanntermaßen geduldig, und davon wird in der Stadtverwaltung viel produziert. Es ist nicht zum ersten Mal, dass Berater von außen eingekauft werden und deren Vorschläge dann im Papierkorb verschwinden. Das letzte Beispiel ist das Gutachten zur Wirtschaftsförderung. Die dort geforderte Ausgliederung der Abteilung in eine private Gesellschaft ist vom Tisch. Der Masterplan Mobilität soll die Leitlinie für das nächste Jahrzehnt sein, aber dem Verhalten von SPD und CDU fehlt jede Ernsthaftigkeit, die diesem Thema angemessen wäre. Die Dominanz des Autos wird nicht angetastet und keine Politik im Interesse der Stadtgesellschaft gemacht. Auf der Tagesordnung stehen Verkehrswende, Klimaschutz und Bürgerbeteiligung. Das Verhalten der großen Koalition wird dieser Aufgabe nicht gerecht und weist nicht in die Zukunft. Karin Welge hat sich im letzten Jahr mehr Bürgerbeteiligung gewünscht. Dazu müssten die Bürger bei wichtigen Entscheidungen gehört und beteiligt werden. Davon ist bisher nichts zu sehen.

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