Livestream ad acta

Ein Kommentar von Tobias Hauswurz

In Gelsenkirchen bleibt es dabei: Die Ratssitzungen werden auch in Zukunft vorerst nicht live im Internet übertragen. Die Mehrheit im Gelsenkirchener Rat hat sich dagegen entschieden. Die unehrliche Debatte und das Abstimmungsprozedere werfen im Nachhinein viele Fragen auf. Fest steht: Es ist ein Desaster für die große Koalition. Eine Analyse.

Dabei hatte alles so gut angefangen. Mit einer Debatte, in der es Gegensätze nur in den Details zu geben schien. Grünen-Fraktionsvorsitzende Adrianna Gorczyk begann ihre Rede gar mit den Worten: „Der Livestream wird wahrscheinlich kommen. Das ist eine gute Nachricht.“ Sicher war sie sich vor allem wegen der beiden inhaltlichen Anträge, die beide einen Livestream forderten: Der eine gestellt von SPD, CDU, FDP und Tierschutzpartei, der andere von den Grünen und DIE PARTEI. Eine solche Antragslage verspräche eigentlich eine stabile Mehrheit. Zumal es dann in der Debatte um die Grundsatzfrage keine nennenswerte Gegenrede gab. Abgestimmt wurde dann aber erst darüber, ob der Livestream generell kommt. Über das „wie“ sollte dann mit den Folgeanträgen entschieden werden. Doch dazu kam es nicht.

Ins allgemeine Pausengemurmel hinein verkündete Oberbürgermeisterin Karin Welge das Ergebnis der geheimen Abstimmung. Für den Antrag: 22 Stadtverordnete. Gegen den Antrag: 26. Nochmalige Vergewisserung: Ja, so rum ist es korrekt.

Autsch.

Was schon als beschlossene Sache galt, war plötzlich innerhalb weniger Sekunden vom Tisch gefegt. Ratlosigkeit allenthalben. Adrianna Gorczyk von den Grünen ist nach wie vor enttäuscht: „Wir haben jede erdenkliche Brücke gebaut und allen viel Zeit für Beratungsbedarf eingeräumt. In der Debatte ergab sich dann ja auch ein sehr geschlossenes Bild.“ Gereicht hat es trotzdem nicht. Wie konnte es dazu kommen? Endgültig aufklären lassen wird sich das wohl nie. Es lohnt sich aber, noch mal ein paar Minuten zurückzuspringen. Zum im Nachhinein entscheidenden Moment, in dem der CDU-Fraktionsvorsitzende Sascha Kurth (CDU) die geheime Abstimmung beantragte. Schon vorher hatte er angekündigt, dass die GroKo-Fraktionen den Fraktionszwang aussetzen würden.

Warum ist das so entscheidend?

Pandemiebedingt hatten sich die Fraktionen und Ratsgruppen im Vorfeld der Sitzung darauf geeinigt, nur in halber Besetzung zu tagen. Wie in den Ausschüssen bleiben dabei die Mehrheiten bestehen. Gilt der Fraktionszwang und wird wie gewohnt öffentlich abgestimmt, ist es relativ egal, welche Ratsmitglieder an der Sitzung teilnehmen. Wird der Fraktionszwang aber ausgesetzt, ist es plötzlich sehr wichtig, wer da ist und wer nicht. Schließlich könnten zufällig vor allem die Stadtverordneten an der Abstimmung teilnehmen, die gegen den Livestream sind. „Da hätte man im Vorfeld vielleicht drüber diskutieren können“, sagt Sascha Kurth, „das war in unserer Fraktion aber kein Thema.“

Das im Hinterkopf ergeben sich drei mehr oder weniger plausible Szenarien, warum der Livestream aus dem Rathaus gescheitert ist.

Szenario 1: Die große Koalition hat das Risiko des Zufalls in Kauf genommen.

Frei nach dem Motto: Wir stimmen einfach ab, egal wer da ist und wie es ausgeht. Aber ist das wirklich wahrscheinlich? Schließlich war es gerade die große Koalition, die um mehr Zeit gebeten hat, um sich umfassend eine Meinung bilden und intensiv mit Thema auseinandersetzen zu können. Die ganze Arbeit wäre am Ende für die Katz, weil zufällig die falschen Leute im Saal sitzen. Es wäre auch äußerst fragwürdig, auf diese Art und Weise mit einer wichtigen Entscheidung umzugehen. Schließlich würden in dem Fall viele Stadtverordnete um ihre Gewissensentscheidung gebracht, schlicht, weil sie nicht anwesend sind. Und es würde auch bedeuten, dass es im Vorfeld keinerlei Absprachen unter den Fraktionsmitgliedern gegeben hat. Wie könnte man sonst ohne taktieren entscheiden, wer bei der Abstimmung dabei ist, und wer nicht? Natürlich könnte es sein, dass sich jedes GroKo-Mitglied alleine im stillen Kämmerlein eine Meinung gebildet hat. Es wäre ja auch am coronakonformsten – wirklich plausibel klingt es trotzdem nicht. Sascha Kurth weist das zurück. Bei der CDU habe es eine Abfrage gegeben, wer an der Sitzung teilnehmen möchte und wer nicht. Danach habe man sich dann in eine Früh- und eine Spätschicht aufgeteilt. Getauscht wurde direkt nach der Abstimmung. „Reiner Zufall“, sagt Kurth. Schließlich habe man kaum absehen können, wann die Abstimmung wirklich stattfindet.

Also alles Zufall? Könnte sein. Möglicherweise passt aber auch Szenario 2 besser: Die GroKo-Spitze kennt ihre Fraktionen schlecht.

Dank der Mehrheitsverhältnisse im Gelsenkirchener Rat wissen wir: Mindestens fünf Mitglieder der großen Koalition müssen gegen den eigenen Antrag gestimmt haben. Da sich die große Mehrheit der anderen Parteien bereits zu Beginn der Legislaturperiode für einen Livestream ausgesprochen haben, dürften es deutlich mehr sein. Sascha Kurth deutet in Richtung AfD: Vielleicht seien dort die fehlenden Stimmen für die Mehrheit zu finden, das sei zumindest denkbar. Allerdings wurde vor allem die große Koalition im Vorfeld nicht müde darauf hinzuweisen, dass die AfD Aufnahmen aus Ratssälen und Parlamenten sehr gerne für ihre Zwecke missbraucht. Rechtspopulisten, die eine Bühne ablehnen, dürfte es nicht allzu viele geben. 

Hat die GroKo-Spitze also einen Antrag gestellt, den die viele ihrer Hinterbänkler gar nicht wollten? Das wäre denkbar und würde kein gutes Licht auf die Kommunikation innerhalb der GroKo-Fraktionen werfen: Haben die Fraktionsvorsitzenden ihre Fraktionen doch falsch eingeschätzt? Besprechen die Fraktionen ihre Anträge vorher nicht? Wenn doch, warum haben sich die Gegner im Vorfeld nicht lauter zu Wort gemeldet? Entweder haben sie sich nicht getraut oder sie ließen ihre Fraktionsvorderen absichtlich ins offene Messer laufen. Beide Möglichkeiten lassen für die nächsten Jahre nichts Gutes hoffen. An der CDU dürfte es nicht gelegen haben, glaubt hingegen Sascha Kurth: Rund drei Viertel seiner Fraktion seien im Vorfeld für den Livestream gewesen. Auch aus Kreisen der SPD-Fraktion ist von einer Mehrheit die Rede.

Wenn also schon im Vorfeld relativ klar war, wer wie stimmen würde und nach wie vor gilt, dass in der Politik nichts durch Zufall passiert, käme nur ein drittes Szenario infrage. Das wäre mit Abstand das unwürdigste:

Die große Koalition hat eine große Show abgezogen. Das Kunststück: Einen Antrag stellen, obwohl klar ist, dass er nicht durchkommt. Für Oppositionsparteien ist das alltäglich, um in der Öffentlichkeit das eigene Profil zu schärfen. Bei einer Mehrheitskoalition wird es zum vermeintlichen Geniestreich. In der Öffentlichkeit könnte man sich trotzdem als Antragsteller profilieren (noch dazu als ein besonders umsichtiger, der seinen Fraktionsmitgliedern das freie Gewissen lässt) und stünde nicht als Transparenzverhinderer da. Dass ausgerechnet 26 Groko-Mitglieder anwesend waren und es 26 Gegenstimmen gab, nährt bereits die Gerüchteküche – ist aber wohl eher Zufall.

Trotzdem ist es wahrscheinlich, dass ein nicht unerheblicher Teil der Nein-Sager aus dem Lager der GroKo kommt. Aber egal, ob sie CDU- oder SPD-Mitglied sind oder von anderen Parteien kommen: Es ist beschämend, dass kein einziger der 26 Livestreamgegner im Plenum das Wort ergriffen hat. Wer sich nicht traut, seinen Wählern seine Positionen zu erklären und öffentlich für sie einzustehen, sollte vielleicht nicht in die Politik gehen. Ehrenamt hin oder her – zu dem wird ja niemand gezwungen. Und man kann leicht davon zurücktreten, wenn einem der unangenehme Teil der Politik doch nicht so liegt. Sascha Kurth sieht das anders: „Die CDU-Fraktion hielt Frage zum Livestream von vornerein für eine sehr persönliche Entscheidung.“ Der öffentliche Druck in der Frage sei immens, davor habe meine seine Stadtverordneten schützen wollen.

 

Oder war alles doch ganz anders?

In der SPD-Fraktion gingen offenbar kurz vor der Abstimmung die Alarmglocken an. Das geht aus einer internen Email hervor, die an alle SPD-Ratsmitglieder verschickt wurde und die der isso.-Redaktion vorliegt. Hintergrund ist, dass die große Koalition, FDP und Tierschutzpartei bei ihrem inhaltlichen Antrag dafür sorgen wollten, dass nur die Stadt Gelsenkirchen die Videos des Livestreams nutzen darf. So sollte verhindert werden, dass die Ratsmitglieder an den digitalen Pranger gestellt werden können. Die stellvertrende AfD-Fraktionsvorsitzende Enxhi Seli-Zacharias hatte ankündigte, sich im Zweifel darüber hinwegzusetzen und sich schon andere Rechtskonstruktionen bereitgelegt zu haben. Eine kleine Randbemerkung eigentlich. Gleich mehrere Stadtverordnete sollen sich daraufhin aber umentschieden haben. Offenbar aus Angst, die AfD könnte tatsächlich ein Schlupfloch finden, die Videos für ihre Zwecke zu missbrauchen. Diese Entscheidung sei „im Sinne einer wehrhaften Demokratie, die ja keinesfalls den Missbrauch durch Leute, die die Demokratie lediglich beschädigen wollen, zulassen muss, durchaus nachvollziehbar und ebenso verantwortungsbewusst“, heißt es dazu in der internen Mail.

Aber wie man es dreht und wendet: Vermasselt hat es letztlich die große Koalition mit ihrer Zauderei. Dabei geht es gar nicht so sehr um die Frage, ob man für Livestreams aus der Ratssitzung ist oder nicht. Es darf persönliche Gründe geben, dagegen zu sein. Auch Angst sollte als ein Grund gelten dürfen. Fragwürdig ist eher das Abstimmungsprozedere und das Signal, das davon ausgeht. Eine große Koalition, die sich lieber in geheime Abstimmungen flüchtet, statt im Zweifel mit ihrer großen Mehrheit auch für unpopuläre Entscheidungen gerade zu stehen, ist eigentlich schon am Ende. Überraschend ist nur, dass es so schnell ging.

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2 Gedanken zu “Livestream ad acta

  1. Ganz meiner Meinung, der letzte Satz.
    Im Übrigen würd ich gerne ein persönliches Interview mit der neuen OB lesen. Hier soll sie mal ihre defensive Kommunikation mit den Bürgern erklären. Außerhalb von Fußball und Ostergrüßen. Ersteres fällt ja auch als Glanz weg.
    Und ihren Umgang damit, seit wann sie besondere Maßnahmen zur COVID-Bekämpfung in Problemhäusern und -stadtteilen bekämpft und vor Allem wie. Das wird sicher noch sehr bedeutend für die nächsten Wochen.
    Wenn ich zuerst in der Süddeutschen lese, dass sie dort in einem Beitrag über Kindergeldbetrug spricht, da in GE jedes 10. Kind rotierend aus Südosteuropa ist, finde ich das befremdlich – neben anderen Verkündungen genauso. Zu wenig Bürgernähe. Das machen Nachbar-OBs besser. Allerdings sind auch nicht alle Städte so im Fokus mit dem Thema.

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