Die politischen Verhältnisse, Haltungen und Stimmungen sind ja überall spürbar. Wie oft habe ich mich in den letzten Jahren auf der Straße oder bei beruflichen Begegnungen gefragt, wessen geistig Kind ist wohl „der” oder „die”? Die Gesinnungen sind ja inzwischen recht breit und unterschiedlich aufgestellt. Einerseits ist deutlich eine Polarisierung der Gesellschaft zu erleben, andererseits wachsen aber auch die vielfältigen Nischen – politisch, kulturell, wirtschaftlich.
Gut, in meinen peer-groups fühle ich mich relativ sicher in meinen Einschätzungen darüber, wie die Kolleginnen und Kollegen ticken, die Freunde, die Verwandten. Aber schon im nächsten Rückstau an der Ampel verlassen einen die Ahnungen.
Folgende Sitzverteilung würde sich ergeben, wenn an der nächsten Lichtsignalanlage spontan gewählt würde: FDP 45%, Grüne 35%, Rest AfD – weil „Kampf dem roten Geampele“!
Oder im Supermarkt: Was wählen die Kunden, all‘ die, welche da zufällig gerade mit mir an der Kasse stehen – außer Hack im Angebot und „Nimm 2, zahl‘ 3”!?
Die in der Stadt größtmögliche Bowl an menschlicher Gesinnung kommt regelmäßig in der Arena Auf Schalke zusammen. So komme ich ja erst drauf, nicht wahr.
Also, nehmen wir ein ausverkauftes Heimspiel in der Bundesliga. 61.267 Wahlberechtigte sitzen da im weiten Rund. Wir ziehen 5.700 ab, so viele Gästekarten waren es z.B. offiziell gegen Borussia Mönchengladbach, also Leute, die sich den Kaiser vom Niederrhein wählen, aber keinen Ratssaal im Hans-Sachs-Haus zusammenstellen. Es bleiben 55.567 Gelsenkirchenerinnen, herkunftsmäßig aus Schalke, Ückendorf, Hassel etc. bis hin zum Sauer- und Münsterland, wie auch Belgien – europäische Mitbürger, die übrigens sehr betrunken und trotzdem äußerst lustig waren, als ich sie an der Entlastungsrinne im Stadion angetroffen habe.
Nehmen wir an, diese 55 Tsd. sind die Gelsenkirchener Wähler. Nun stimmt jedoch die Hälfte von ihnen gar nicht ab. Oder ihre Stimmen werden nicht gezählt. Auf dem Stimmzettel „NUR DER S04“ zu ergänzen, zählt eben nicht, leider. Es bleiben demnach noch 27.780 gültige Stimmen, rund die Hälfte.
Ist es also so, dass man demnach im Stadion sitzt oder steht, egal ob Nord, Haupt, Gegen oder Süd, und unabhängig davon, ob die Kerle rund um Dich rum alle so besoffen sind, dass sie das Spielgeschehen im Parlament, Verzeihung, da unten auf dem Rasen gar nicht mehr registrieren – ist es also so, dass sich rund um dich herum 4.726 AfD-Wähler (17%) in der Arena befinden, königsblau-weiße Schals recken und „wie lieb‘ ich dich“ grölen? Und dazu mit 33,5% genau 9.313 SPD-, mit 22,5% exakt 6.255 CDU-, und dazu zweieinhalbtausend FDP-, zweitausend Linke- und ca. 1.400 Grünen-Wählerinnen anwesend sind?
Man fragt ja nicht in der Halbzeitpause den Sitznachbarn, 2:0, wie geil ist das denn, und was wählst Du denn so?
Oder das Team, die Spieler, der Trainer-Stab und alle drum und dran: Sind von diesen knapp 50 Leuten fünf oder acht AfD-Befürworter? So muss es doch sein, statistisch. Und sonderbar, wie gleichzeitig das Gefühl entsteht, nein, hier geh‘ ich nicht mehr hin, da tummeln sich zu viele Faschos … und dies andere, das sagt, ja, genau, dies‘ ist dein Land, deine Stadt!
Oder wie ist es nächstes Mal beim Italiener? Nehmen wir an, ein durchschnittlich schwach besuchter Abend, wir zählen zusammen mit uns 25 Gäste. Sind davon vier oder nach der nächsten Wahl gar acht freundlich Saltimbocca-kauende Mitbürger*innen für Gauland und Co’s Vereinfachungsparolen??
Eine ganz normale Kulturveranstaltung in Gelsenkirchen, sagen wir, mit 100 Besuchern: Wählt die Hälfte etwa links und grün, weil sie, die Hälfte, doch so kunstaffin ist? Man weiß es nicht. Ich hörte in der Schule ja auch davon, dass die Wahlen geheim seien.
Nicht geheim sind im Stadion dann wieder die übelsten rassistischen Ausrufe und Beschimpfungen, angeblich irgendwo aus der Kurve in Richtung eines dunkelhäutigen Spielers im Match gegen Hertha BSC. Da wieder gilt es, die Stimme nicht zu verschenken, sondern zu erheben! Klar NEIN und STOPP zu sprechen, und „Nicht in meinem Stadion!“ – Es bleibt zu hoffen, dass der Verein wie angekündigt den Vorwürfen unbeirrt nachgeht und diese Schiefmäuler aus der Kultursteinzeit in Zukunft aus der Arena verbannen kann.
Nein, abstimmen lassen würde ich die Arena nicht wirklich gern, wenn es darum geht, die politischen Geschicke Gelsenkirchens neu zu bestimmen. Lieber würde ich mir, wie es das Unternehmen FC Schalke 04 kann, nach meinem Gusto eine(n) Trainer(in) kaufen, einen fähigen Kader von elf Fachleuten zusammenmieten, eine prima Ersatzbank leasen und zwei Mal im Jahr das offene Transferfenster nutzen. – Gut, diese Methode wäre kaum demokratisch zu nennen. Wenn es die Stadt aber damit in die internationalen Plätze schaffte, nähme es den braunen Alternativen für Deutschland den gleich zeitgeistigen wie hohlen Wind aus den Segelohren, und dafür bin ich.
Ich wünsche uns ein schönes Spiel – und am Ende ein gutes Ergebnis. Die nächste Halbzeit kann nur besser werden.
Un wichtich is sowieso aufm Platz. Oder?
Auf Wiederlesen
Ihr André Wülfing
Dann und wann gibt Knappenkartensammler a.D.
André Wülfing an dieser Stelle ungefragt seine Sicht auf die königsblaueste Nebensache der Welt zum Besten. Immer ganz frei und mit Stoß!