von Michael Voregger
Gelsenkirchen ist mit aktuell 260 368 Einwohnern keine kleine Stadt. In der Tabelle der größten deutschen Städte liegt sie auf Platz 25. In NRW auf Platz 10 und im Ruhrgebiet hinter Dortmund, Essen, Duisburg und Bochum auf dem fünften Platz. Glaubt man den Äußerungen von Politik, Verwaltung und Medien, dann ist die Stadt auf einem guten Weg. Ein Blick auf die Zahlen und Fakten ergibt allerdings ein anderes Bild. Bei der neuesten Studie der Bertelsmann-Stiftung zur Kinderarmut bildet Gelsenkirchen wieder das Schlusslicht und der Anteil armer Kinder liegt hier bei 38,5 Prozent.
16 414 junge Menschen leben in Familien, die Leistungen nach dem Sozialhilfegesetz beziehen. Noch dramatischer ist die Situation der Kinder unter drei Jahren, denn hier ist fast jedes zweite Kind betroffen. Die Studie kommt auf einen Wert von 42,8 Prozent und ähnlich ist es bei den Drei- bis Sechsjährigen mit 42,6 Prozent. Seit der letzten Untersuchung 2011 gab es einen Anstieg der Kinderarmut von 5,8 Prozent, während landesweit nur 0,3 Prozent dazu kamen. Damit liegt Gelsenkirchen erneut auf dem letzten Platz in NRW. Im bevölkerungsreichsten Bundesland liegt der Durchschnitt bei 18,6 Prozent der Heranwachsenden und bundesweit sind es 14,7 Prozent. „Die Studie vergleicht die Entwicklung zwischen 2011 und 2016. Das ist genau der Zeitraum, in dem die starke Zuwanderung aus Südosteuropa auch nach Gelsenkirchen stattgefunden hat“, erklärt Oberbürgermeister Frank Baranowski in der Lokalausgabe der WAZ. „Wir benötigen ausreichend Plätze in Kitas und im offenen Ganztag, damit Alleinerziehende arbeiten gehen können. Wir müssen endlich in den sozialen Arbeitsmarkt einsteigen, damit Menschen nicht von Hartz-IV abhängig sind.“ Auch wenn man die Steigerung komplett der Zuwanderung zurechnet, bleiben noch 32,7 Prozent Kinderarmut übrig. Die politischen Erklärungen gleichen den Äußerungen von 2012 bei der letzten Studie und auch damals wurde eine stärkere finanzielle Unterstützung des Bundes gefordert. Das Ergebnis ist bekannt und geändert hat sich wenig. Dabei ist die SPD in NRW und in Berlin seit Jahren in der Regierung. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat die Parole „Kein Kind zurücklassen“ zum wichtigen Bestandteil ihrer Politik erhoben. „Kein Kind zurücklassen ist ein Erfolg und wir wollen die vorbeugende Politik in Nordrhein-Westfalen fortsetzen“, hat sie vor einigen Wochen angekündigt. 2012 wurde „Kein Kind zurücklassen“ (KeKiz) gestartet und 18 Kommunen von Bielefeld bis Düren haben sich beteiligt. Mit einer intensiven „Präventionskette“ von der Schwangerschaft bis zum Eintritt ins Berufsleben sollte alles besser werden. Die Realität ist leider eine andere, denn in Nordrhein-Westfalen wurde es in den vergangenen fünf Jahren für Kinder aus prekären Lebensverhältnissen schlechter. Selbst in den 13 größten der 18 Modellkommunen sind mehr als 180 000 Kinder von Armut betroffen. Arm bleibt immer noch Arm. Das sind düstere Aussichten für die Zukunft der Kinder und damit auch für die betroffenen Regionen. Eine Investition in die Zukunft bedeutet, dass ausreichend Geld für die Bildung und vor allem für die Schulen ausgegeben wird. Der Bundesschnitt pro Grundschüler und Jahr liegt derzeit bei 5600 Euro. Der Stadtstaat Hamburg gibt pro Jahr 8700 Euro für jeden Schüler aus. NRW investiert nur 4800 Euro und kein Bundesland hat weniger für seine Grundschüler übrig. Auch der Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss liegen über dem Durchschnitt mit regionalen Unterschieden. Der Sozialbericht NRW kommt hier zu einem eindeutigen Ergebnis: „Während in Gelsenkirchen gut jeder zehnte Schulabgänger 2014 keinen Hauptschulabschluss erlangt hat (10,6 %), traf dies im Kreis Warendorf auf gut jeden dreißigsten zu (3,4 %)“
Auf der Suche nach der Arbeit
„Nirgendwo sonst in Deutschland ist das Verhältnis von Arbeitsplätzen zu Arbeitslosen so ungünstig wie bei uns“, sagte Rainer Lipka schon 2013. „Jede vierte Familie in Gelsenkirchen bekommt Hartz IV, viele davon seit Jahren“. Im letzten Jahr ist der Leiter des Jobcenters in Gelsenkirchen in den Ruhestand gegangen. Geändert hat sich die Situation in der Stadt nicht und Gelsenkirchen führt die bundesweite Statistik weiter mit 14,9 Prozent Arbeitslosigkeit an. Die Zahl der sozialversicherungpflichtig Beschäftigten bleibt seit Jahren etwa auf dem gleichen Stand und im letzten Jahr hat die IHK 76 272 Jobs gezählt. Davon entfallen 74 Prozent auf den Bereich Dienstleistungen. Der Umsatz von Industrie und produzierendem Gewerbe hat in Gelsenkirchen weiter abgenommen und ist 2015 um 5,2 Prozent gesunken. Gelsenkirchen ist auch die Stadt der sogenannten Aufstocker, also der arbeitenden Menschen, die nicht von ihrem Gehalt leben können und zusätzlich Leistungen vom Jobcenter bekommen. Nach einer Studie der Universität Essen arbeiten Menschen, die ihren Lohn aufstocken müssen vor allem im Handel, in der Gastronomie, im Gesundheits- und Sozialwesen. In Gelsenkirchen sind aktuell 7356 Menschen sogenannte Aufstocker, also Minjobber, Geringverdiener und Selbstständige deren Einkommen nicht zum Leben reicht. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl um 2,9 Prozent gestiegen. Dagegen ist die Zahl der Hartz-IV-Aufstocker bundesweit in den vergangenen Jahren etwa gleichgeblieben. Im Prinzip findet hier eine Subventionierung von Unternehmen statt, die ihre Mitarbeiter nicht vernünftig bezahlen.
Arbeitsplätze mit höherer Qualifikation gehen in Gelsenkirchen weiter verloren, wie die bevorstehende Schließung des Vaillant-Werks mit rund 200 Beschäftigen deutlich macht. Es entstehen zwar auch neue Stellen im Bereich der Gastronomie und der Logistik, aber hier gibt es eine deutliche niedrigere Entlohnung und die notwendige Qualifikation ist weitaus geringer. Das drückt sich dann auch in den wirtschaftlichen Kerndaten aus. Frankfurt am Main hat mit 86 203 Euro bundesweit das höchste Bruttoinlandsprodukt je Einwohner. Gelsenkirchen kommt dagegen 30 237 Euro. In NRW liegen Düsseldorf mit 69 706 Euro und Bonn mit 61 766 Euro weit vorne. Das wirkt sich auf die Steuereinnahmen aus und die Mainmetropole liegt mit 1566 Euro beim Dreifachen der Einnahmen von Gelsenkirchen mit 490 Euro pro Einwohner im Jahr. Innerhalb Nordrhein-Westfalens gibt es deutliche Einkommensunterschiede. Am höchsten war das verfügbare Einkommen 2013 im Kreis Olpe mit 26 631 Euro und am niedrigsten in Gelsenkirchen mit 15 904 Euro.
Wirtschaft und Wachstum
NRW hat gerade seinen 70. Geburtstag gefeiert, aber bei der wirtschaftlichen Entwicklung gibt es keinen Grund zur Freude. 2015 war NRW das einzige Bundesland, in dem die Wirtschaft stagniert, während der Rest der Republik einen Aufschwung genießt. „Auf den Medaillenplätzen stehen Baden-Württemberg mit 3,1 Prozent, Berlin mit 3,0 und Brandenburg mit 2,7. Am Ende der Länder- Liga findet sich mit null Prozent Nordrhein-Westfalen“, sagt Paul Welfens Präsident des Europäischen Instituts für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Bergischen Universität Wuppertal. „Wegen gestiegener Wohnbevölkerung bedeutet dies rund -0,5 Prozent Wachstum pro Kopf. Das ist im Aufschwung ein historisches Tief für das mit 17,6 Millionen Menschen bevölkerungsreichste Bundesland. Ein Tiefpunkt, der sich wegen der Größe von NRW auf ganz Deutschland auswirkt“. Experten beurteilen auch die Zahl der Neugründungen von Unternehmen und der „Startups“ als zu gering. In NRW gibt es in weiten Teilen Westfalens und dem Bergischen Land Regionen mit einem industriellen Mittelstand, der wirtschaftlich sehr erfolgreich ist. Die Zentren Köln und Düsseldorf sind begehrte Wohn- und Verwaltungszentren. Die wirtschaftliche Schwäche des Landes liegt eindeutig in der Region an Ruhr und Emscher. Nach Zahlen des Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) lag der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung hier zuletzt nur noch bei 19,5 Prozent – und damit unter dem Bundesdurchschnitt von 22,2 Prozent: „Auch die Forschungs- und Entwicklungsausgaben machten in NRW nur gut ein Drittel der Ausgaben in Baden-Württemberg aus“, erklärten die Experten des RWI. In den südlichen Bundesländern ist die Industrie ein viel stärkerer Wirtschafsfaktor. In Bayern trägt sie gut ein Viertel, in Baden-Württemberg fast ein Drittel zur Wertschöpfung bei. Beide Bundesländer haben Nordrhein-Westfalen bei wichtigen Kennziffern inzwischen weit überholt.
Soziales und Gesundheit
Armut, Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Entwicklung haben auch Einfluss auf die Gesundheit der Menschen. Die in der Berichterstattung des Landes ermittelten Zahlen zur Lebenserwartung machen regionale Unterschiede deutlich erkennbar. Wie bereits in den Vorjahren ist die mittlere Lebenserwartung bei Geburt in Bonn für beide Geschlechter am höchsten. Sie liegt bei weiblichen Neugeborene um „1 Jahr und 6 Monate“ und bei den männlichen Neugeborenen um „1 Jahr und 11 Monate“ über dem Landesdurchschnitt. „Dagegen ist die Lebenserwartung in Gelsenkirchen für beide Geschlechter am niedrigsten“, heißt es in dem Bericht „Gemessen am Landesdurchschnitt liegt die Lebenserwartung bei weiblichen Neugeborenen um 2 Jahre und 3 Monate niedriger, bei neugeborenen Jungen um 2 Jahre und 10 Monate niedriger“.
Kultur und Kreativwirtschaft
Im Ruhrgebiet setzt man gerne auf Kultur und Kreativwirtschaft, wenn es um die wirtschaftliche Entwicklung geht. Auch in Gelsenkirchen glaubt man sich auf einem guten Weg und wagt den Vergleich mit den Metropolen dieser Welt. „In Amsterdam hat sich inzwischen herumgesprochen, wie angenehm das Leben in Gelsenkirchen ist“, sagt der Leiter des Gelsenkirchener Kulturamts Volker Bandelow. Die Kulturwirtschaft ist in vielen der 30 größten Städte in Deutschland ein bedeutender Arbeitgeber und das sehen auch die Experten des Hamburger Weltwirtschafts Institut so: „In den vier deutschen Millionenstädten sind derzeit in Berlin 5,0 %, in Hamburg 5,1 %, in Köln 5,9 % und in München 7,0 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in diesem Wirtschaftszweig angesiedelt – Tendenz steigend“. Demnach können Investitionen in die Kulturinfrastruktur dazu beitragen, bei Städten einen Strukturwandel anzustoßen. Allerdings kommen die Experten bei ihrem aktuellen Ranking des kulturellen Angebots zu einer anderen Einschätzung als die kommunalen Kulturpolitiker in Gelsenkirchen: „Nürnberg und Hannover machten beim diesjährigen Ranking den größten Sprung nach vorn und verbesserten sich um jeweils sieben Plätze, während die nordrhein-westfälischen Städte Wuppertal, Gelsenkirchen, Mönchengladbach und Duisburg wieder auf den letzten Rängen zu finden sind“.
Weiter so, hilft nicht mehr
Bei der rot-grünen Landesregierung heißt es trotz der bekannten Fakten fälschlicherweise immer noch: „Nordrhein-Westfalen – das sind die starken Schultern Deutschlands.“ Leider ist das Land keine „der wirtschaftsstärksten Metropolregionen Europas“ und das Ruhrgebiet ist auch keine wirkliche Metropole. Der Hinweis auf die schwierigen Industriestrukturen der Vergangenheit sind keine ausreichende Erklärung für die aktuellen Probleme und sollen wohl eher die eigenen Fehler verdecken. Da hilft auch keine teure Werbekampagne für den Standort Gelsenkirchen, wenn die Gegenwart trist bleibt und die Aussichten düster sind.
Die verwendeten Zahlen sind den folgenden Veröffentlichungen entnommen:
HWWI/Berenberg Kultur-Städteranking 2016
Die 30 größten Städte Deutschlands im Vergleich
http://www.hwwi.org/fileadmin/hwwi/Publikationen/Publikationen_PDFs_2016/2016-09-13_Berenberg_HWWI_Kulturstaedteranking_Studie.pdf
Sozialbericht NRW 2016
Armuts- und Reichtumsbericht
http://www.sozialberichte.nrw.de/sozialberichterstattung_nrw/aktuelle_berichte/SB2016.pdf
Zahlen und Fakten zur Wirtschaft – IHK Nord Westfalen
https://www.gelsenkirchen.de/de/stadtprofil/stadtfakten/statistiken/_doc/ihk_nw_zahlen_fakten_2015_12_online.pdf
Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche – Bertelsmann Stiftung 2016
http://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_WB_Armutsfolgen_fuer_Kinder_und_Jugendliche_2016.pdf