Die Last der Zahlen: Zur Situation des Ruhrgebiets

von Michael Voregger

In der Emscherregion mögen viele Menschen keine Rankings, weil ihre Städte und Quartiere in der Regel schlecht abschneiden. Das gilt vor allem bei der Zahl der Arbeitslosen, der Kinderarmut und der wirtschaftlichen Entwicklung. Gelsenkirchen ist da keine Ausnahme, und Tabellen werden hier nur dann gerne gesehen, wenn es um die Fußballbundesliga geht und Schalke einen Platz an der Sonne einnimmt. Dabei sind Zahlen und Statistiken die Grundlage einer Politik, die nachhaltig ist und die Städte zukunftsfähig macht.

Wirtschaftswachstum und Haushaltseinkommen
Im Jahr 2017 lag die Wirtschaftsleistung des Landes Nordrhein-Westfalen bei 72.708 Euro je Erwerbstätigen. Dabei erreichte die Stadt Leverkusen mit 100.105 Euro den höchsten Wert unter den kreisfreien Städten und Kreisen des Landes. Die niedrigsten Werte wurden für Oberhausen (60.008 Euro), Herne (58.505 Euro) und Bottrop (53.825 Euro) ermittelt. Gelsenkirchen erreichte mit 68.200 Euro im Vergleich der Städte in NRW einen Platz im Mittelfeld. Auf den ersten Blick ein überraschendes Ergebnis. Wenn die letzten Jahre als Vergleich herangezogen werden, ergibt sich ein anderes Bild. Nach der Wirtschaftskrise 2008 gab es in Deutschland einen Wirtschaftsaufschwung und eine lange Phase des Wachstums. Das hat bundesweit zu sinkenden Quoten bei der Arbeitslosigkeit geführt. Auch in Gelsenkirchen ist die Wirtschaft in dieser Zeit gewachsen, aber die Raten lagen immer unter dem Durchschnitt in Deutschland. In NRW gab es 2017 eine Zunahme von 3,2 Prozent, und Gelsenkirchen kam auf 1,3 Prozent. Selbst in den Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs konnte die Stadt den Rückstand zu anderen Regionen nicht aufholen, sondern der Abstand hat sich vergrößert. Aktuell ist Deutschland knapp an einer Rezession vorbeigeschrammt, aber die wirtschaftlichen Aussichten bleiben schlecht. Das wird sich auch auf Gelsenkirchen auswirken.
Das Grundgesetz stellt der Politik die Aufgabe „gleichwertige“ Lebensverhältnisse in der gesamten Bundesrepublik zu erreichen, aber von diesem Ziel ist Deutschland 2019 weit entfernt. Das zeigt ein Blick auf die durchschnittlichen verfügbaren Einkommen der Privathaushalte in den 401 deutschen Landkreisen und kreisfreien Städten.
„Sie sind im bundesweit ‚wohlhabendsten’ Landkreis Starnberg bei München mit 34.987 Euro pro Person und Jahr mehr als doppelt so hoch wie in der Stadt Gelsenkirchen, die mit 16.203 Euro Pro-Kopf-Einkommen das Schlusslicht bildet“, heißt es in einer Studie der Hans Böckler-Stiftung. Wenn die Preissteigerungen einbezogen werden, dann ist das Haushaltseinkommen in Gelsenkirchen in den letzten Jahren sogar gesunken.
„Das Ruhrgebiet ist die ärmste Region Deutschlands. Gelsenkirchen die ärmste Stadt des Landes. Doch die Zeit der Kohle ist vorbei, und Stahl hat keine große Bedeutung mehr für die Region. Goldgräberstädte gibt man wieder auf, wenn der Goldrausch zu Ende ist“, sagt Stefan Laurin, Autor und Gründer des Journalistenblogs Ruhrbarone. „Das Schicksal wird dem Ruhrgebiet wahrscheinlich erspart bleiben, aber es wird auf ein Maß zurückschrumpfen, das seinen wirtschaftlichen Perspektiven entspricht. Die überschaubare, aber vorhandene Chance, einen anderen Weg einzuschlagen, wurde verpasst.”

Mobilität und Kirchturmdenken
Der Umgang mit der Mobiität und der Zustand des öffentlichen Nahverkehrs machen vieles anschaulich. Unter dem Dach des Verkehrsverbundes Rhein Ruhr (VRR) arbeiten ein knappes Dutzend lokaler Verkehrsunternehmen. Sie bieten einen schlecht aufeinander abgestimmten Nahverkehr. Kein anderer europäischer Ballungsraum könnte sich so etwas leisten. Da ist es nur naheliegend, dass die Bürger nicht auf das Auto verzichten wollen. Markenzeichen des VRR sind hohe Preise, miese Anschlüsse und gut bezahlte Vorstandsposten. In den urbanen Regionen in Deutschland fährt jeder Fünfte mit Bus und Bahn. Im Ruhrgebiet nur jeder Zehnte.
Der Sozialdemokrat und Chef der Emschergenossenschaft Ulrich Paetzel hat eine Idee, was sich ändern muss: „Das Ruhrgebiet braucht im Nahverkehr einen Durchbruch. Wenn wir mehr Menschen dazu bewegen wollen, Busse und Bahnen zu benutzen, müssen wir jetzt handeln. Ein Klein-Klein bringt uns nicht mehr weiter“, erklärte er gegenüber dem Journalistenblog Ruhrbarone. Nach seiner Vorstellung soll der Nahverkehr im Revier von einer Genossenschaft organisiert werden:
„Die Städte würden bei diesem Modell ihre Nahverkehrsunternehmen einbringen. Aber auch Unternehmen und Verbände wie Pro Bahn sollten dort mit am Tisch sitzen. Wir brauchen Planung, Bau und Betrieb aus einer Hand. Das Ruhrgebiet muss ein Schienensystem wie Berlin bekommen“.
Dafür müssen neue Strecken gebaut und die Lücken im Netz geschlossen werden. Eine öffentliche Diskussion über den Vorschlag gibt es in der Region und den Rathäusern bisher nicht. Ulrich Paetzel hat auch nicht mit allgemeiner Begeisterung gerechnet, dabei wäre die Mobilität in der Region ein wichtiges Thema vor den Kommunalwahlen im nächsten Jahr.
„Wenn wir es nicht schaffen, das Nahverkehrsproblem zu lösen, ist das Ruhrgebiet gescheitert“, befürchtet der Chef der Emschergenossenschaft. Beim Ausbau der Infrastruktur für Radfahrer sieht es ähnlich schlecht aus. Erst im Oktober ist ein Radfahrer in Gelsenkirchen bei einem Unfall mit einem Lkw getötet worden. Die Bezirksregierung in Münster hat die Umsetzung des blauen Fahrradstreifens in Buer kritisiert und die Stadt zur Nachbesserung aufgefordert. Nur neun Prozent des Verkehrs entfallen auf das umweltfreundliche Fahrrad – in Freiburg sind es 34 Prozent und in Münster 38 Prozent. Eine sichere und zuverlässige Infrastruktur kostet Geld, und für Radwege wird zu wenig ausgegeben. In Deutschland investieren die Kommunen meist weniger als fünf Euro pro Einwohner pro Jahr in die Radinfrastruktur. In Gelsenkirchen sind es zurzeit 3,80 Euro pro Kopf. In der Fahrradstadt Kopenhagen mit 35 Euro fast das Zehnfache, und im niederländischen Venlo waren es zuletzt sogar 60 Euro. Fahrradfahren ist in Gelsenkirchen eine mühsame und gefährliche Angelegenheit.

Smartes Gelsenkirchen
Der Branchenverband Bitkom hat den aktuellen Smart City Index veröffentlicht. Betrachtet wurden alle deutschen Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern. Dabei wurden 35 Indikatoren wie die Breitbandanbindung der Haushalte, der Online-Bürgerservice oder die Ladeinfrastruktur für E-Autos bewertet. Experten haben dafür in fünf Themenbereichen insgesamt rund 7.800 Datenpunkte erfasst und eingeordnet:
„Verwaltung, IT und Kommunikation, Energie und Umwelt, Mobilität, Gesellschaft – wie schlagen sich die Städte in den einzelnen Bereichen? Welche sind Vorreiter, welche haben Nachholbedarf?“
Es wurde mit dem Index die digitale Zukunftsfähigkeit der Städte gemessen. Viele Kommunen im Ruhrgebiet sind von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt. Gelsenkirchen hat in den letzten Jahren immer verkündet, mit der Digitalisierung und der Entwicklung zu einer Smart City auf einem guten Weg zu sein. Wer schon mal versucht hat, in der Stadt einen Glasfaseranschluss über Gelsennet zu erhalten, weiß um die Schwierigkeiten dieser Strategie. Aktuell sind in der Stadt nur rund 6.000 Wohnungen an das leistungsfähige Netz angeschlossen.
Gelsenkirchen gehört seit Januar 2018 zu den fünf digitalen Modellkommunen im Rahmen des NRW-Landesprojektes „Digitale Modellregionen NRW“. Unter den 81 Großstädten in Deutschland erreicht die „digitale Modellkommune“ Gelsenkirchen Platz 45 und liegt im unteren Mittelfeld. Von einem Spitzenplatz ist man weit entfernt.
„Wir wollen etwas mehr. Wir wollen eine in jeder Hinsicht vernetzte Stadt sein, in der die Digitale Vernetzung in Diensten der ganz realen sozialen Vernetzung steht“, erklärte Oberbürgermeister Frank Baranowski im letzten Jahr. „Der superschnelle Mobilfunkstandard 5G wird dabei ein großer Schritt nach vorne sein und vollkommen neue Möglichkeiten für die Menschen in unserer Stadt bieten.“
Smart Cities wollen alle Kommunen sein, und in Deutschland liegen derzeit 44 Großstädte auf diesem Weg weit vor Gelsenkirchen. Die Optimisten in der Stadt und in der SPD werden das positiv sehen, dass wir bei einem bundesweiten Ranking mal nicht auf dem letzten Platz liegen.
In Gelsenkirchen ist man nach dem Ende von Kohle und Stahl schon vielen Ideen hinterhergelaufen, ohne eine Chance zu haben den Vorsprung der Mitkonkurrenten aufzuholen. Das gilt für das Projekt Solarstadt, die Dienstleistungsgesellschaft, die Ansiedlung von Logistik und aktuell für „Smart City“. So bleibt Gelsenkirchen eine Stadt ohne besondere Eigenschaften und ohne besondere Projekte, die anders und innovativ sind.

Rankings, Zahlen und die öffentliche Wahrnehmung
In der großen Politik sind Rankings dagegen beliebt, denn hier sind die guten Plätze zum Beispiel beim Wirtschaftswachstum ein Nachweis, dass man zumindest nicht viel falsch gemacht hat. Beim Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Gelsenkirchen passt sich das Staatsoberhaupt der hier vorherrschen Sicht an. Er lobt das Potenzial der Region, kritisiert die Schauergeschichten und relativiert die Bedeutung von Rankings. Die Kollegen von der WAZ begleiten den Besucher freundlich und sind gute Gastgeber, die sich erstaunlich zahm geben und vor eigener Ehrfurcht dem Staatsoberhaupt keine kritischen Fragen stellen. Leider kommt der Besuch zu keinem guten Zeitpunkt, um den gelungen Strukturwandel zu loben und auf die Potenziale des Ruhrgebiets zu verweisen. So haben Thyssen Krupp und EON gerade angekündigt, dass sie massiv Arbeitsplätze in der Region abbauen werden.
Das nächste Jahr wird in den Rathäusern der Region einschneidende Veränderungen bringen. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa ist die SPD im Ruhrgebiet mit 22 Prozent nur die drittstärkste Partei. Die Grünen mit 25 Prozent und die CDU mit 24 Prozent haben sie überholt. Es ist also an der Zeit sich mit der Realität und den Zahlen zu beschäftigen, um politische Lösungen für die großen Probleme der Region zu diskutieren.

 

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