Geht es nach den Stadtplanern in Gelsenkirchen, dann liegt das neue Kreuzberg mitten im Stadtteil Ückendorf. Hier sollen sich Kreative und Bürger aus dem Mittelstand ansiedeln, die den Standort nach vorne bringen. Der Stadtteil liegt direkt an der Hattinger Straße, die von der Autobahn A40 in die Innenstadt führt. Begrüßt werden die Besucher durch Fast-Food-Ketten, ein Casino und seit neuestem durch den noch nicht ganz fertiggestellten Justizpalast. Anfang 2016 sollen hier Amts-, Arbeits- und Sozialgericht in das 48,5 Millionen teure Gebäude einziehen. 12600 Kubikmeter Beton und 2200 Tonnen Stahl wurden verbaut – herausgekommen ist ein schmuckloser Bau mit drei mächtigen Quadern. Das neue Tor zum Stadtteil Ückendorf und zum Süden der Stadt ist also ein Gericht geworden.
Ückendorf wird in den Augen der Gelsenkirchener Bevölkerung immer noch als sozialer Brennpunkt gesehen. Die wirtschaftliche Lage ist schlecht, Ladenlokale an der Bochumer Straße stehen leer und die Gründerzeithäuser verfallen. Daran haben auch die Stadterneuerungsprogramme nicht viel geändert. Seit 2002 sind rund 4,5 Millionen Euro an Bundesmitteln nach Gelsenkirchen Südost geflossen und zu diesem Gebiet zählt auch Ückendorf. Eine Evaluation der Ergebnisse wird vom Bundesministerium für Umwelt erst Mitte nächsten Jahres vorgelegt. Allerdings zeigt der Augenschein sehr schnell, dass die Fortschritte im Stadtbild nur sehr begrenzt sichtbar sind. In der Krise liegen natürlich immer Möglichkeiten und das glaubt auch der Standortentwickler Siegfried Panteleit: „Das sind Entwicklungsräume, von denen manche Großstadt nur träumen kann“. Das zielt natürlich auf die immer gern eingespannten Kreativen ab. So gehören zum kreativen Netzwerk der „Insane Urban Cowboys“ nach eigenen Angaben inzwischen etwa 60 Fotografen, Designer, Theaterleute, Tänzer, Musiker und Maler, die eine starke Verbindung zur Region und auch zum Stadtteil Ückendorf haben. Geht es nach den Stadtplanern soll mit der Underground-Kunst die Entwicklung des Quartiers angeschoben werden. Im Stadtteil ist davon bisher wenig zu sehen.
In Ückendorf leben aktuell etwa 19 000 Menschen. Die Arbeitslosigkeit ist mit zeitweise 28 Prozent sehr hoch und liegt weit über dem Durchschnitt in Gelsenkirchen. Hier leben auch viele Migranten und Menschen ohne deutschen Pass. Als Vorbilder für eine positive Entwicklung werden immer wieder das Hamburger Schanzenviertel und natürlich Kreuzberg genannt. In der Tat ist der Zustand vieler Häuser in Ückendorf mit der Situation der Mauerstadt in den 80er Jahren vergleichbar.
Die Ursprünge des kreativen Chaos in Berlin liegen auch in der Hausbesetzerszene der 80er Jahre. Dort begann im Februar 1981 eine Besetzungswelle und auf dem Höhepunkt waren 165 Häuser besetzt. Von solch einem kreativen Potenzial ist Ückendorf weit entfernt.
So scheitert derzeit schon die Ansiedlung der gewünschten „Szene-Gastronomie“ an bürokratischen Kleinigkeiten der kommunalen Bauordnung. Nach 22 Uhr geht in Ückendorf nicht mehr viel im Nachtleben. „Der Schaffung von Planungsrecht muss eine politische Diskussion vorausgehen“, sag Siegbert Panteleit. „Es wird die Frage zu beantworten sein, wo wir dem Wohnen und wo wir zum Beispiel Veranstaltungsnutzungen oder handwerklicher Produktion den Vorrang geben. Zurzeit gibt es dabei kaum Spielraum im Quartier“. Kreuzberger Nächte sind eben nur in Kreuzberg wirklich lang.
Dabei reicht es manchmal auch einen kleinen Stein ins Wasser zu werfen. Eine solche Gelegenheit bietet das ehemalige Verwaltungsgebäude des Gussstahlwerkes an der Bochumer Straße. Zurzeit hat hier noch das Arbeitsgericht seinen Sitz, aber der Umzug in den Neubau des Justizzentrums auf der anderen Straßenseite steht bevor. Es gab eine kurze Diskussion in der Stadt, ob der Fachbereich Journalismus der Westfälischen Hochschule in den Stadtteil umziehen soll. Das hätte viele Vorteile und würde dem Stadtteil neues Leben einhauchen. Die Studenten könnten in den attraktiven und noch renovierungsbedürftigen Gründerzeithäusern preiswert wohnen. Außerdem würde es der daniederliegenden Gastronomie neue Impulse geben. Die Studenten wären nicht mehr an den Stadtrand abgeschoben, sondern kämen im wirklichen Leben an – für angehende Journalisten keine schlechte Voraussetzung. Damit würde sich auch das Problem der Mobilität lösen, denn Autobahn und Hauptbahnhof liegen in unmittelbarer Nähe. Das wird von den Studenten regelmäßig beklagt, denn die Hochschule liegt am äußersten Stadtrand und nur schwer erreichbar. Für den Präsidenten der Westfälischen Hochschule – Professor Bernd Kriegesmann – steht ein Umzug derzeit nicht auf der Tagesordnung: „Die Journalisten werden nicht umziehen, sondern die bleiben hier am Campus. Hier ist die gesamte studentische Infrastruktur von Mensa bis Bibliothek. Das sind 300 bis 350 Studierende plus eben die Dozenten. Die sind hier gut untergebracht und das soll so bleiben“.
Dabei wäre ein Umzug keine große Angelegenheit, denn sowohl die Gebäude der Hochschule und das Gericht haben mit dem Bau- und Liegenschaftsbetrieb NRW denselben Vermieter. Der Bau ist im neoklassizistischen Stil errichtet und auch von innen sind die 3100 qm sehr attraktiv. Dort warten über 40 Büroräume, vier Sitzungssäle, Lagerräume, Sanitärräume und Abstellräume auf neue Nutzer. Es gibt Interessenten unter Fotografen, Journalisten, Filmproduktionsfirmen und Galeristen – keine schlechte Kombination im Verbund mit der Ausbildung von Journalisten. Die Hochschule kann sich zumindest eine Nutzung für die Talentförderer vorstellen, die stärker in den Stadtteilen aktiv werden sollen. Allerdings brauchen die maximal 20 Mitarbeiter keine 3100 qm und weitere Nutzer wären notwendig. Denkbar wäre auch ein „Coworking Space“, der in den Metropolen dieser Welt schon zum Standard gehört. Also einem Arbeitsplatz, wo Freiberufler, Studenten, Kreative, Startups und Digitalarbeiter zeitlich befristet zusammenarbeiten.
Die Entscheidung für die Zusammenlegung der Gerichte hat die schwarz-gelbe Landesregierung zwischen 2005 und 2010 getroffen. Durch Zusammenlegen der Strukturen sollen Kosten gespart werden, was sich angesichts der hohen Baukosten allerdings noch erweisen muss. Es war also fünf Jahre lang Zeit sich Gedanken über eine Folgenutzung zu machen und passiert ist kaum etwas. Der Umzug des Gerichts ist auf Anfang des kommenden Jahres festgesetzt und was dann mit dem alten Gebäude passiert ist weiter offen. Die Kritik trifft alle Beteiligten: Justizministerium, Landesregierung, Bau- und Liegenschaftsbetrieb NRW und die kommunale Politik. Dabei geht es auch um die Frage, warum die Landespolitik den durch überdurchschnittlichen Leerstand gekennzeichneten Immobilienmarkt in Gelsenkirchen überhaupt durch das Leerziehen öffentlicher Gebäude zusätzlich belastet.
Derzeit sieht es so aus, dass die bestehenden Möglichkeiten wieder nicht genutzt werden. Es ist zu erwarten das im besten Fall Verwaltungen, Büros und Kanzleien in die Räume an der Bochumer Straße einziehen. Das wird den Stadtteil nicht weiter voranbringen. Das zeigt schon der benachbarte Wissenschaftspark, der in den 90er Jahren erbaut, immer noch wie ein Fremdkörper wirkt. Mit dem Justizzentrum ist das zweite Raumschiff in Ückendorf gelandet und von einem neuen Kreuzberg ist der Stadtteil weit entfernt.
Wieder ein gut recherchierter Artikel.
Und ewig grüßt das Murmeltier!
Woher kommt dieses Selbstbild und die Trägheit in Gelsenkirchen?
Ich würde die Verhältnisse in Ückendorf durchaus mit den Entwicklungen der Städte des Rustbelts in den USA vergleichen. Dies gilt für weite Bereiche des nördlichen Ruhrgebiets, nur es wird nicht so deutlich vor Ort ausgesprochen.
Hamburg und Berlin sind Weltstädte, Gelsenkirchen ein Provinzstadt, die ohne Fußball kaum bekannt wäre. Der Vergleich mit dem Schanzenviertel in Hamburg ist daher nicht richtig, da Hamburg eine stetig wachsende Stadt ist, wo kreative Szenen ständig neue Stadträume suchen müssen, da sie wegen steigender Bodenpreise verdrängt werden. Fast jeder Standort in Hamburg kann genfriziert werden, da keine erschwinglichen Räume mehr vorhanden sind. Und in Gelsenkirchen kann kaum jemand Kunst käuflich erwerben.
Das Beispiel der verhinderten Gebäudeumnutzung für angehende junge Journalisten ist typisch für die Zustände in Gelsenkirchen. Eigentlich geht nur noch Besetzung. Mit den Entscheidern wird wieder Nichts gehen, mangels Mut und Visionen.
Schon der Bau des Wissenschaftsparks wurde in Entwicklerkreisen kritisch gesehen, da man keine jungen Leute (Studierende FH) in den Stadtteil holte. Die heutige Belegung der Büros zeigt, dass gerne Landesinstitutionen und städtische Abteilungen in die Leerstände gesetzt werden, um die Entwicklung zu kaschieren.
Vielleicht sollte man die vielen Fördermittel einfach nur in die Kitas und Schulen geben (Lehrer, Sanierung, Neubau, Material, gesundes Essen, Schulhöfe, Fahrräder, Kurse, Ausflüge, Sprachkurse, Nachhilfe..).
Die zahlreichen desolaten Wohnungen müssen saniert und betreut werden. Einiges Gebäude sind nicht mehr zu retten, die sollte man abreißen und dort neue Gebäude und Flächen entwickeln.
Dabei könnte eine fundierte Ausbildung im Handwerk für die vielen jungen Menschen ohne Perspektive eine Maßnahme sein (allerdings nur durch echte Handwerksunternehmen, nicht mit sogenannten Bildungsinstitutionen). Gerne könnten dazu Fachkräfte im Handwerk finanziert werden (fachliche Begleitung, Schule, Nachhilfe, etc.).
Professionalisierung in Gelsenkirchen wäre gut, weniger Klüngel und mehr Weltoffenheit.