Gregor Sander: „Lenin auf Schalke“
Ein Ex-Ossi geht der Behauptung nach, Gelsenkirchen sei „der Osten im Westen“. Seit 30 Jahren schreibt der Westen über den Osten – aber umgekehrt?
„Lenin auf Schalke“ heißt das Buch, das der Wahl-Berliner und Schriftsteller Gregor Sander
bei einer Lesung im Halfmannshof Anfang April den Gelsenkirchener*innen präsentierte. Auf 200 Seiten stellt Sander seine Erlebnisse und Erkenntnisse aus drei Monaten Gelsenkirchen zusammen – versetzt mit einem homöopathischen Anteil an Fiktion, der sicherlich nicht für jeden ganz klar erkennbar von realer Erzählung zu unterscheiden ist.
Mit Zonen-Gabi, die mittlerweile in Flöz Dickebank wohnt, ihrem Freund Ömer, dem Büdchen-Betreiber und Gastarbeiternachfahren, und nicht zuletzt seinem Freund Schlüppi aus Berlin, der ihm einen Besuch im Ückendorfer Domizil abstattet, formt er geschickt Sprachrohre für die etwas derberen Themen, um weiterhin im Buch selbst die gesellschaftskritischeren Bereiche abzuklopfen und seinen höchsteigenen Eindruck über die Umgebung, die Menschen und das Lebensgefühl zu erörtern.
Dass die Wahl auf Gelsenkirchen gefallen ist, hat vor allem mit der Errichtung der Lenin-Statue in Horst zu tun, die den ostdeutschen Nerv in Sander gekitzelt hat, um sich auf die ärmste Stadt Deutschlands im Gesamtvergleich mit einer der höchsten Arbeitslosenquoten und einem sehr bunten Bevölkerungsmix einzulassen.
Wichtig ist zu wissen, dass Gregor Sander sich selbst nicht als Dokumentarschreiber oder Journalist versteht. Drei Monate Gelsenkirchen während der Pandemie im Sommer 2020 inklusive abruptem Abbruch wegen des drohenden Lockdowns im November – das ist einfach zu kurz, um ein Gesamtbild von Stadt und Leuten repräsentativ zu manifestieren. Es kann nur eine Momentaufnahme sein. Auch Kohle und Fußball sollten eigentlich keine Rolle im Buch spielen – hier muss sich der Autor aber eingestehen, dass das in Gelsenkirchen so gut wie unmöglich ist. Daran wäre noch nicht einmal ein Stan Libuda vorbeigekommen. Obwohl in dieser Zeit die Nordkurve leer blieb, die Schalker Meile unbelebt und die Jubelschreie stumm, hat er seinen Eindruck mit vielen bildhaften Anekdoten und aufschlussgebenden Dialogen zu Papier bringen können. Aber wir wollen ja auch nicht zu viel verraten.
Im Halfmannshof ließ er sogar verlauten, gerne noch einmal das geöffnete Gelsenkirchen kennenlernen zu wollen. Angesprochen auf seine drei Reiseempfehlungen für sein Spezialgebiet Ückendorf, gibt er klare Antworten: die Trinkhalle am Flöz, die Himmelstreppe und das Venedig des Ruhrgebiets: die Siedlung Flöz Dickebank. Nur die Currywurst – die isst er lieber weiterhin am Stück, nicht geschnitten.