Sparpolitik statt Gemeinwohl

Die Stadt trickst bei den
sozialen Mietgrenzen

von Joachim Sombetzki

 

In Gelsenkirchen können Grundsicherungsempfänger aufgrund einer zu niedrig beschiedenen Angemessenheitsgrenze der Stadt seit Jahren kaum guten und ausreichenden Wohnraum finden. Thematisiert wurde das in der öffentlichen Berichterstattung kaum.

Vor zehn Jahren waren die Angemessenheitsgrenzen der Stadt Gelsenkirchen im Bereich der Grundsicherung noch an den entspannten Wohnungsmarkt vor der Flüchtlingskrise angepasst. Damals gab es bereits das Problem von schlechtem Wohnraum, und es war üblich, dass Grundsicherungsempfänger die Differenz zur höheren Miete selbst bezahlten. Trotzdem war es für Singles relativ erfolgversprechend, angemessenen Wohnraum zu finden. Für eine größere Anzahl von Menschen gab es auch verfügbare Wohnungen mit Zustimmung der Behörden.
Im Jahr 2014 wurde das Dilemma der Wohnungsnot in Gelsenkirchen durch eine Beauftragung einer Firma durch die damalige Sozialdezernentin Karin Welge grundlegend verschärft. Die Firma kam mit ihrer empirica-Studie auf eine viel zu geringe Angemessenheitsgrenze, die für die Stadt viel Geld einsparen sollte. Dabei wurden Rat und Ausschüsse umgangen und das Gutachten war im Vergleich zum Schnäppchenpreis zu haben, wie Frau Welge später berichtete.
In dem „Gelsenkirchen-Urteil“ des Bundessozialgerichts, das von einem Betroffenen angestrebt wurde, heißt es zu dem Sachverhalt lapidar:
„Im Oktober 2014 erstellte ein Forschungs- und Beratungsinstitut (…) ein Gutachten zu den Angemessenheitskriterien für die Kosten der Unterkunft. Nach dieser Untersuchung wurde der Angemessenheitswert für einen Alleinstehenden mit einer Bruttokaltmiete von 290 Euro angegeben.“

Diese Studie war keinesfalls gerichtsfest, wie Frau Welge im Sozialausschuss im Januar 2015 auf Nachfrage von Sozialpfarrer Dieter Heisig angab. Drei Sozialrechts-Experten fanden seltsame Schlüsse in dem „Gutachten“. Einer von ihnen ging mit einer Kollegin vor die Presse und stellte die zu geringe Nebenkostenberechnung öffentlich vor. Die LINKE im Rat kritisierte die herabgesetzten Betriebskosten infolge der Studie und fragte nach der Begründung für die „Angemessenheit“, wenn die Leistungen an Bedürftige bei gestiegenen Betriebskosten verringert werden. Die Firma, die das Gutachten erstellte, zog einen „Zirkelschluss“ bei den Betriebskosten, was vom Bundessozialgericht als grundsätzlich unzulässig kritisiert wird. Das Sozialgericht Gelsenkirchen folgte bereits 2018 dieser Meinung. Doch erst kürzlich hat das Bundessozialgericht das Thema der Betriebskostenberechnung erneut vorgelegt und wartet nun seit zweieinhalb Jahren auf eine Entscheidung des Landessozialgerichts NRW. In der Zwischenzeit spart die Stadt Gelsenkirchen Geld.

Das Dilemma begann nicht erst 2014, sondern schon mit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005. Bis dahin wurden Sozialhilfeempfängern in der Regel Sozialwohnungen zugesprochen, ohne dass deren Angemessenheit geprüft wurde. Mit Hartz IV sollten auch bei den Mieten Einsparungen erzielt werden. Die Standards wurden gesenkt, und der Anspruch auf eine Sozialwohnung wurde den SGB-II-Hilfeempfängern nicht mehr zugesprochen. Diese Praxis wurde von einem Richter am Bundesverwaltungsgericht, Prof. Uwe Berlit, kritisiert und trug zur Klagewelle gegen die Reform bei den „Kosten der Unterkunft“ bei.
Ein Beispiel für diesen Paradigmenwechsel fand 2006 in Gelsenkirchen statt, als die damalige Sozialdezernentin Henriette Reker den Sparmaßnahmen bei den Ausgaben für soziales Wohnen zustimmte. Sie informierte den Sozialausschuss darüber, dass sie diese Änderungen auf Weisung des damaligen Oberbürgermeisters Frank Baranowski vornehmen musste. Reker entschuldigte sich später bei den Betroffenen, insbesondere bei der Hartz IV-Selbsthilfegruppe, dafür, dass die Stadt die Angemessenheitsgrenzen durch die Verwaltung herunterschraubte, um Geld auf Kosten der Armen zu sparen. Ein Bericht der Sozialdezernentin als Kämmerin ergab, dass die Aufgabenerfüllung in der Stadt Gelsenkirchen nicht den Standards entspricht.

Das Gemeinwohl
gerät aus dem Blick

Die Wohnungsfrage steht im Vordergrund beim Gemeinwohl. Wenn die Stadt schwarz auf weiß belegbar seit 2010 die Standards bei ihrer Aufgabenerfüllung nicht mehr gewährleistet, wie sie in vergleichbar armen Städten oder im Landesdurchschnitt als Auftrag des Grundgesetzes üblich sind, ist die Welt in Gelsenkirchen schon lange nicht mehr in Ordnung. Das birgt sozialen Sprengstoff in sich. Nicht nur, dass die auf angemessene Mietwohnungen angewiesenen Grundsicherungsempfänger betroffen sind. In 2015/16 ist der Wohnungsmarkt wegen der Flüchtlingszuzüge derart ausgereizt, dass die Stadt Gelsenkirchen bei ihrem Versuch, Wohnungen für die Flüchtlinge zu den üblichen Mietpreisen anzumieten, laut damaliger Auskunft von Sozialdezernentin Karin Welge im Sozialausschuss, zunächst scheiterte. Die Verwaltung scheiterte bei ihren Anmietversuchen für die Flüchtlinge an den von ihr selbst zu gering angesetzten Angemessenheitsgrenzen.
Frau Welge teilte dem Ausschuss – dem ich damals angehörte – mit, dass die Stadt sich deshalb entschlossen hätte, die Mietgrenze auf 300,- Euro anzuheben. Diese Anhebung von 290,- auf 300,- Euro reichte offenbar aus, das Dilemma bei der Wohnungsanmietung für die Flüchtlinge zu beseitigen. Es konnten, laut Auskunft von Frau Welge, für alle hilfesuchenden Flüchtlinge durch die Stadt Wohnungen zu 300,- Euro Bruttokaltmiete angemietet werden.

Dass die Flüchtlinge nach sechs Monaten – wie bei der Grundsicherung üblich – eine Kostensenkungsaufforderung angesichts einer zu hohen Miete erhielten, wie später zu hören war, muss allerdings verwundern, da die Stadt doch ihre eigenen Erfahrungen mit einem veränderten Mietenmarkt in Gelsenkirchen, der von einem Mietermarkt zu einem Vermietermarkt geworden war, gemacht hatte. Kurioserweise hob die Stadt aufgrund der nachvollziehbaren Veränderungen auf dem Wohnungsmarkt durch die angereisten Flüchtlinge auch nicht die Angemessenheitsgrenze für alle an. Wer also weiterhin als Grundsicherungsempfänger eine Wohnung sucht, ist ziemlich geleimt.

Eine Wohnung ist seit dem Flüchtlingszuzug 2015/16, angesichts der viel zu geringen Mietgrenzen in der Stadt, die nicht der Situation angepasst wurden, kaum bis gar nicht mehr anmietbar. Zumindest nicht für die Vielzahl von Menschen, die ihre eigene Wohnung derzeit aus unterschiedlichen Gründen verlassen müssen, weil Vermieter die Mieten erhöhen und dazu auch die Eigenbedarfskündigung als Instrument einsetzen, wie es derzeit ein Freund von mir erlebt. Eine neue Wohnung zu den von der Stadt festgesetzten Mietgrenzen findet er nicht. Die Wohnungen im Kommunalen Wohnungsaushang in diesem Bereich tendieren seit Jahren gegen Null. Andere Wohnungen in Internetportalen finden sich nicht zu diesen Preisen. Das hängt natürlich auch an den vom Bundessozialgericht als nicht nachvollziehbar ermittelten Betriebskosten, die im Mittelwert genommen einfach zu gering sind, um die tatsächlich anfallenden Betriebskosten ansatzweise abzubilden. Den oberen Spannenwert – gekappt um die Ausreißer – will die Stadt aber aus den bekannten Gründen nicht als maßgebliche Angemessenheitsgrenze ansetzen.

Akute Spaltung
der Gesellschaft
durch fehlende Anpassung

Der auf angemessene Mietwohnungen angewiesene soziale Wohnungsmarkt ist seitdem für alle Menschen existenziell ein Desaster. Vermehrt durch die Zuzüge aus der Ukraine sind die starren Angemessenheitsregelungen, die nur alle zwei Jahre einer Prüfung unterzogen werden, schon lange nicht mehr in der Lage den Bedarfen auf dem Gelsenkirchener Wohnungsmarkt gerecht zu werden. Das wird der Lebenswirklichkeit nicht gerecht. Und obwohl die rechtliche Pflicht besteht, die Grenzen nach oben anzupassen, wenn sich erklärtermaßen auf dem Wohnungsmarkt zu den gesetzten Preisen keine Wohnungen anmieten lassen, beharrt die Stadt – trotz des verlorenen Prozesses vor dem Bundessozialgericht – weiterhin bei ihren niedrigen Angemessenheitsgrenzen, um damit offensichtlich weiter Geld zu sparen. Laut Auskunft der Sozialdezernentinnen Reker und Welge im Sozialausschuss beläuft sich der Einsparbetrag auf jährlich zwei bis vier Millionen Euro. Dieses Geld will die Stadt, so macht es offensichtlich den Anschein, bis auf den letzten Cent mitnehmen, obwohl das Urteil grundsätzlich andere Anweisungen gibt, wenn es dort heißt:
Bei der Festlegung der Angemessenheitsgrenze ist „letztlich entscheidend, ob der jeweilige Kläger im konkreten Vergleichsraum eine ‚angemessene‘ Wohnung anmieten kann“, so das Bundessozialgericht. „Bei der Prüfung des Angemessenheitsbegriffs ist im auf eine höhere Leistungsgewährung gerichteten subjektivrechtlichen Rechtsschutzverfahren entscheidend, ob der jeweilige Kläger im konkreten Vergleichsraum eine ‚angemessene‘ Wohnung anmieten kann“.

Das ist – wie die Stadt selbst erfahren durfte – nachweislich seit 2015/16 nicht mehr der Fall. Die Situation der für Flüchtlinge – ausnahmsweise – angehobenen Angemessenheitsgrenzenmit nachträglichen Kostensenkungsaufforderungen, ist als ein dahingehendes Versagen von Verwaltung und Politik im Rathaus festzustellen. Die Stadt weiß, dass der Freie Angebotsmarkt definitiv ein anderer ist, als dies durch ihre „Gutachten“ auf der Basis von Bestandswohnungen bei den Betriebskosten ausgewiesen wird. Trotz des eindeutigen allgemeinen Hinweises des Bundessozialgerichts zu dem von der Stadt angewandten Angebotsmietenkonzept, ändert die Stadt an ihrer Praxis nichts.

„Aus Konzepten, die auf der Grundlage ausschließlich von Angebotsmieten erstellt werden, muss sich allerdings ergeben, dass Wohnungen zum als angemessen ermittelten Betrag auch – insbesondere im Vergleich zur Wohnungsnachfrage im Vergleichsraum – in ausreichender Zahl tatsächlich angeboten werden. Ein Konzept, das sich letztlich nur auf eine so geringe Zahl von angebotenen Wohnungen stützt, dass der Schluss, Wohnungen stünden grundsätzlich zu diesem Preis zur Anmietung zur Verfügung, nicht gerechtfertigt wäre, würde keine ausreichende Basis für die Ermittlung der abstrakt angemessenen Unterkunftskosten bieten.“ (a.a.O., Rn. 38)

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