Ein Buchtipp von Roman Dell
Die Inderin Smita ist eine Dalit – eine Unberührbare. Sie lebt mit ihrer kleinen Tochter Lalita und ihrem Ehemann Nagarajan in Baldapur, einem indischen Dorf in dem Bundestaat Uttar Pradesh, wo sie ihren Lebensunterhalt damit verdient, die Toilettenplätze in den Häusern von Familien anderer Kasten von Fäkalien zu säubern, die einzige Arbeit, die den Menschen ihrer Kaste überhaupt erlaubt ist, wofür sie von allen Menschen der anderen Gesellschaftsklassen regelmäßig geächtet und schikaniert wird. Dieses Schicksal soll ihrer einzigen Tochter erspart bleiben. Mit guter Ausbildung könnte Lalita dem Fluch des Kastensystems entkommen und später in der Stadt einen guten Job zu finden, wo die Tradition der Kastentrennung nicht so entscheidend und bedeutend ist und anderes als auf dem Land wenig bis kaum praktiziert wird. Dafür schließt Smita mit dem Dorfschullehrer einen Deal. Sie wird seine Toilette kostenlos säubern, wenn er im Gegenzug verspricht, ihre Tochter in die Schule aufzunehmen und zu unterrichten. Doch schon der erste Tag endet im Fiasko. Das Mädchen kommt nach Hause – ausgepeitscht, weil sie sich weigerte, das Klassenzimmer im Beisein ihrer Mitschüler zu putzen, als der Lehrer das von ihr, gemäß ihrer Kastenpflicht als „Unberührbare“, verlangte. Während ihr Ehemann Nagarajan dazu rät, ihr Schicksal und Pflicht als Unberührbare gemeinsam mit der Tochter zu akzeptieren, entscheidet Smita sich für einen Kampf… und flieht mit Lalita aus dem Dorf.
Währenddessen kämpft die junge Italienerin Guilia im sizilianischen Palermo um das Überleben einer kleinen Perückenfabrik – das Lebenswerk ihres Vaters, der die Firma mit falscher Kalkulation in den Ruin trieb und seit einem schweren Autounfall im Koma im Krankenhaus liegt. Dabei muss sie sich nicht nur der skrupellosen Konkurrenz, die ihre Firma zum Spottpreis kaufen will, sondern auch dem Druck in der eigenen Familie sowie dem Traditionsdenken ihrer Landsleute widersetzen. Diese sind gegen ihre Liebe zu einem aus Kaschmir geflüchteten Sikh, dem Turban tragenden Kamalit Sing. Guilias erbitterter Kampf für ihr berufliches und privates Existenzrecht als Frau wird von ihrem Umfeld nicht gutgeheißen.
Für die Kanadierin Sarah steht viel mehr auf dem Spiel als nur die Liebe oder Karriere. Es geht um ihr eigenes Leben und das Leben ihrer Familie. Sie muss den Kampf gegen den Krebs für sich und ihre Kinder gewinnen und um ihre gehobene Stellung in einer Starkanzlei nicht zu verlieren, die sie durch harte Arbeit erst seit Kurzem erlangt hat –eine Stellung, die ihre neidischen männlichen Kollegen ihr nicht gönnen und gerne streitig machen wollen, gerade jetzt, als sie am Boden zerstört ist.
Lebendig und bildhaft zeichnet Laetitia Colombani, welche dem breiten Lesepublikum in der Vergangenheit als Schauspielerin und Regisseurin bekannt wurde, die Portraits von drei Frauen, die nicht unterschiedlicher sein können und dennoch alle etwas Gemeinsames haben. Jede von ihnen muss sich ihrem persönlichen Kampf stellen. Ihre Freiheit, Würde und Existenzrecht in der männerdominierten Gesellschaft immer wieder aufs Neue zu verteidigen. Und bereit sein, dafür die Konsequenzen zu tragen. Dabei ist völlig egal, dass Smita in Indien, Guilia in Italien und Sarah in Kanada lebt. Ihre Probleme sind die gleichen. Genau wie ihre Wut und Motivation. Sie fordern Anerkennung und Gleichberechtigung. Etwas Selbstverständliches, das noch immer nicht selbstverständlich ist.
Inzwischen hat Laetitia Colombani noch zwei weitere Top-Bücher geschrieben, die das Thema mutige Frauen und den Kampf um Rechte und Solidarität würdig fortsetzen. In „Das Haus der Frauen“ schildert sie die Entstehung des Palais de la Femme, das von einem Mitglied der Heilsarmee, Blanche Peyron, gegründet wurde, was die Autorin geschickt mit der Geschichte der Staranwältin Solene verbindet, die im selben Haus im heutigen Paris eine persönliche Lebenskrise zu bewältigen versucht. Der Roman „Das Mädchen mit dem Drachen“ dagegen setzt die Geschichte von Smitas Tochter Lalita fort – eine Lektüre, die ich dem Leser hier ebenfalls herzlichst empfehle.
Laetitia Colombani
Der Zopf
FISCHER Taschenbuch, 288 Seiten
ISBN: 3596701856
11 €