GETEILTE MACHT

SPD und CDU gehen Koalition ein

von Denise Klein und Tobias Hauswurz

 

Die erste Große Koalition in der Geschichte Gelsenkirchens ist auf den Weg gebracht.  Nie zuvor war das nötig, und wohl auch nie zuvor so dringend nötig, wie derzeit.

 

n seiner Abschiedsrede in der letzten Ratssitzung unter seinem Vorsitz appellierte Frank Baranowski an den Rat der Stadt, ein respektvolles Miteinander zu wahren, mahnte zu fairer Streitkultur in der Sache und sorgte sich um den Ton künftiger Debatten. Nicht nur Oppositionspolitiker*innen rieben sich die Augen. Diskussionskultur und Höflichkeit gegenüber Kolleg*innen aus anderen politischen Lagern war oft nicht die Kernkompetenz des ehemaligen Oberbürgermeisters und strahlte fast durchgängig auf das Gebaren der SPD-Mehrheitsfraktion aus. Man war sich seiner Überlegenheit bewusst und stellte dies gerne zur Schau.
Nun ist die SPD demütiger. Und das ist nach dem historisch schwachen Wahlergebnis für die Sozialdemokraten auch geboten. Die Gelsenkirchener Wähler*innen haben entschieden: in erster Linie mit Desinteresse zur Nichtwahl. Ganze 73,4% aller Gelsenkirchener*innen blieben bei der Stichwahl zum OB-Amt zwischen Karin Welge (SPD) und ihrem Konkurrenten Malte Stuckmann (CDU) zuhause.

Was sich zuvor im Wahlkampf abspielte, gleicht einem Possenstück und war selbst dem unbeteiligten Betrachter unangenehm. Es waren weniger die direkten Kontrahenten, die sich mal sachlich und freundlich, mal mütterlich oder hemdsärmelig gaben: Wahlkampf eben. Ihre Souveränität gab vor allem die zweite Reihe der hiesigen SPD-Riege auf, sei es durch fantasielose Virologenzitate („Wir haben besseres zu tun“) der Jusos, die bewusst installierte Foto-Gate-Affäre gegen Malte Stuckmann (sein Fotoshooting mit der WAZ wird von der SPD zur Schnüffelaffäre hochgepumpt: Er stand zu nah an Karin Welges Auto) oder die moralinsaure Empörung über einen Gaststättenbesuch bei einer durch die SPD festgestellten „faschistischen“ Restaurantbesitzerin in Buer. Stuckmann hingegen zeigte Chuzpe und eignete sich kurzerhand in einem Interview mit dem Sender Radio Emscher Lippe ein politisches Konzept seiner Konkurrentin an und verkaufte es als seines, was Welge zurecht fassungslos als dreist bezeichnete.

Gelsenkirchen „echt besser machen“?


Nun haben sich die beiden Gegner zusammengerauft und wollen mit viel gezeigter Haltung Gelsenkirchen „echt besser machen”? Man mag uns diesen spitzen Sloganmix bitte verzeihen, denn er lag zu verlockend da. In einheitlicher Bezeugung des gegenseitigen Respekts legten nun die Beteiligten den 32-seitigen Koalitionsvertrag vor. Man habe sehr angenehme Verhandlungen gehabt, sei in fast allen Belangen sehr beieinander gewesen, nur bei den Wegen zu denselben Zielen habe man ringen müssen, so Oberbürgermeisterin Karin Welge. Sie ist sich sicher, so bekundet sie, dass eine Koalition aus CDU und SPD der Stadt, aber auch der politischen Arbeit im Rat sehr gut tue.

Markus Töns, Kreisvorsitzender und Bundestagsabgeordneter der SPD, fasst die neue Ausrichtung, die sich auch ausdrücklich an die anderen Fraktionen richtet, noch einmal zusammen: „Wir sind eine Koalition der Einladung. Zumindest, was demokratische Parteien anbelangt.“ – Damit schließt er eine Zusammenarbeit mit den „Rechtsradikalen“, so seine Worte, aus. Dass Töns damit die AfD-Fraktion meint, die mit elf Abgeordneten in den Rat zieht und damit dieselbe Fraktionsgröße wie die Grünen erreicht, ist offensichtlich.
„Wir waren sehr erstaunt, als wir aus der Zeitung erfahren mussten, dass die SPD sich für eine Koalition mit der CDU entschieden hat. Leider kam man nicht auf die Idee, uns zuerst zu informieren“, zeigt sich Adrianna Gorczyk konsterniert, die neuerdings gemeinsam mit Peter Tertocha den Fraktionsvorsitz der Grünen als Doppelspitze bildet.

 

Doch nicht nur dieser Umstand ärgert ihre Partei. Sie sieht sich klar mit einem WählerInnenauftrag in die Ratsperiode entlassen.
„Es gab sehr gute und konstruktive Sondierungsgespräche mit der SPD, die über viele Stunden gingen. In vielen Punkten lagen wir gar nicht weit voneinander weg. Wir befürchten nun, dass es mit der Großen Koalition nun eher ein ‚Weiter so’ in dieser Stadt geben wird. Und das ist ein fatales Zeichen“, so Jan Dworazek.

Ohne Gelb keine Ampel – auch die FDP hätte gerne mitgemacht bei einer rot-gelb-grünen Koalition. Dass man sich nach mehreren mehrstündigen Sitzungen zu „80 bis 90 Prozent“ einig war, sieht auch die FDP-Fraktionsvorsitzende Susanne Cichos so. „Es gab nur einige wenige Themen, über die wir noch mal genauer verhandeln wollten“, sagt sie. Und auch wenn Cichos der großen Koalition jetzt eine gute Zusammenarbeit wünscht: „Mir fehlt noch die Fantasie mir vorzustellen, dass das nach diesem Wahlkampf plötzlich super harmonisch abläuft.“
Mit ihrer FDP hätte es gerade bei der Digitalisierung einen richtigen Fortschritt gegeben, glaubt Cichos. Und sie sei ohnehin schon immer für eine sozialliberale Ausrichtung ihrer Partei gewesen.

Zweifel an der „Liebesheirat“

Auch Peter Tertocha (Grüne) zweifelt an einer Liebesheirat von Rot-Schwarz: „Unsere Vorschläge für unsere Kernthemen Klima, Verkehr und Bürgerbeteiligung wurden schon in der letzten Ratsperiode abgelehnt, um sie dann als eigenen Vorschlag einzubringen.“
Ist das Thema Ökologie in der Großen Koalition nun kein Thema mehr? Mitnichten, zumindest betont dies Markus Töns (SPD) während der Vertragsvorstellung immer wieder. Demnach sei Klimaschutz als Querschnittsaufgabe zu verstehen, die nicht nur Themen wie Mobilität beträfe. „Aber wir müssen nun einmal sehen, dass Gelsenkirchen vor großen Herausforderungen steht.“
Töns möchte nicht sagen, dass Gelsenkirchen Probleme habe, aber eben diese Herausforderungen. Dabei mag man sich an den Satz des jungen Christian Lindners erinnert fühlen, der – noch zur Schule gehend – in einem Interview verlauten ließ, Probleme seien nur dornigen Chancen. Vielleicht hätte man es doch mit der FDP probieren sollen?

Dass die offensichtlichen Probleme nicht nur Herausforderungen sind, zeigt sich längst an den immer wiederkehrenden schlechten Ergebnissen zu Gelsenkirchen in Umfragen, Vergleichsstudien (401) oder in nackten Zahlen wie der SGBII-Quote, der Kinderarmut, dem niedrigsten Durchschnittseinkommen, der Schulabbrecherquote und so weiter. Die Corona-Krise habe alles weiter verschärft, weshalb „wir besonders in Kinder- und Jugendarbeit, aber gerade auch in Arbeit, Wirtschaft und Wissenschaft investieren“, so Töns.
Da die Kausalkette von Arbeit, von Gesundheit, Bildung und Ausbildung eine Binsenweisheit ist, darf man dahingehend die zurückliegende Produktivität der Gelsenkirchener Wirtschaftsförderung (WiFö) einmal näher betrachten und durchaus auch hinterfragen. Ihr haben die Väter und Mütter des Koalitionsvertrages ein eigenes Kapitel gewidmet, man weiß offenbar um die dunklen Ecken in der Verwaltung. Immer wieder nahm der politische Gegner das Referat 15 unter Leitung des WiFö-Referatsleiters Rainer Schiffkowski ins Fadenkreuz, immer wieder wurde von motivierten Unternehmer*innen berichtet, dass sie mit Startup-Vorschlägen eher vor gelangweilten und unvorbereiteten Mitarbeiter*innen gesessen hätten. Ohne Ergebnis. „Sie hören von uns“. Das war’s mit der Förderung. Die WiFö gehört zum Vorstandsbereich 1 von Stadtrat Christopher Schmitt, dessen Vertrag im kommenden Jahr ausläuft.

 

Die Frage, ob schon über Posten gesprochen wurde, verneint Oberbürgermeisterin Karin Welge, wenn auch etwas lahm. Sie mag nicht darüber sprechen, der CDU-Fraktionsvorsitzende Sascha Kurth schaut angespannt. Entscheidend sei ja vor allem die fachliche Eignung, sagt Welge, was in dem Zusammenhang aber eher klingt wie: Das kriegen wir dann schon irgendwie hin. In den Sozialen Medien geht der Name Stuckmann als Nachfolger für Schmitt um. Man wird sehen.

Dass man Arbeitsplätze in die Stadt holen möchte, betonen beide Partner. Am höchsten gehandelt wird die Ansiedelung von Unternehmen aus dem Bereich der Wasserstofftechnologie.
„Neben dem großen politischen Feld der Sicherheit und Ordnung braucht Gelsenkirchen den Fokus auf die Wirtschaft und Arbeit. Das ist ganz klar die größte Herausforderung“, betont Sascha Kurth, um fortzufahren, dass gute Jobs eben auch junge Familien in die Stadt holen, denen man hier mit erleichternden Maßnahmen bei eventuellen Bauvorhaben entgegenkommen möchte.


Den Beweis, dass die Zukunftstechnologie Wasserstoff ein solides und nachhaltiges Standbein für die Gelsenkirchener Wirtschaft werden kann, muss sie aber erst noch beweisen. Wir wünschen dem Vorhaben ein besseres Geschick als dem Jahrhundertwendewunsch, mit Solarenergie zur „Stadt der tausend Sonnen“ zu werden. Die hiesigen Menschen können Arbeitsplätze dringend brauchen.

Mit stabiler Mehrheit voran

„Ich glaube, dass der Zusammenschluss von SPD und CDU durchaus Sinn ergibt“, sagt Ali Akyol, Vorsitzender der WiN-Ratsfraktion. Zumindest, wenn man auf die Stimmanteile schaue. Eine komfortable Mehrheit halte er für positiv. „Jeder, die die Verantwortung hat, sollte eine stabile Mehrheit haben, um seine Politik zu machen.“ Umso besser könne man die Koalition dann auch an ihren Ergebnissen messen. „Es soll am Ende an den Handelnden gelegen haben, die dann für das geradestehen müssen, was sie gemacht haben. Trotzdem: Die SPD trage aus seiner Sicht die Hauptverantwortung für die desolate Lage der Stadt. Dass mit Grünen und FDP der Karren leichter aus dem Dreck zu ziehen wäre, glaubt er aber nicht. Für die gemeinsame Oppositionsarbeit setzt er seine Hoffnung vor allem in die junge Riege der Grünen. „Wenn die Jüngeren das Zepter übernehmen und unter Beweis stellen, dass sie engagiert und kompetent Politik machen können, werden sich für die Partei in Gelsenkirchen noch viele Türen öffnen.“

Dass die beiden Koalitionäre nur die besten Absichten haben; man möchte es ihnen gerne glauben. Die Chancen nach dem ersten gemeinsamen Auftritt sehen für den Außenstehenden ganz gut aus. Mit den Fraktionsvorsitzenden Axel Barton (SPD) und Sascha Kurth scheinen dem Amt angemessen kühle Köpfe ihren Fraktionen vorzustehen. Dann wird man hoffentlich keine kollektiven, konzertierten Seufzer im Parlament aus der SPD-Ecke hören, wenn die Opposition redet, dann wird man mit engagierten und gewählten Oppositionsratsmitgliedern auf Augenhöhe umgehen und nicht vor aller Augen lustvoll Machtspiele betreiben. Dann wird der Rat der Stadt Gelsenkirchen eine Vorsitzende haben, die gut mit Kritik und anderen Meinungen aus der eigenen Reihe umgehen kann und die keine kopfnickenden Claqueure braucht, um sich ihrer Macht sicher zu sein. Dann werden die Jusos sich aus der Deckung wagen und nicht die selben Mittel der Diskreditierung nutzen wie die politischen Großväter, dann vergisst die einstige Oppositionspartei CDU nicht, wie oft sie abgewatscht, nicht informiert und mit Taschenspielertricks hingehalten wurde. Dann zieht eine neue Kultur ein ins Rathaus, in der sich die Bildung widerspiegelt, die ihre Akteure mitbringen.

Mit der neuen Oberbürgermeisterin könnte das gelingen. Wir werden sehen.
Und beobachten.

 

 

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