Bürger und Experten diskutieren
Innenstädte kranken nicht erst seit den Coronabeschränkungen. Spätestens seit der verdrängenden Konkurrenz des Onlinehandels haben es Kaufhäuser, Fachgeschäfte oder die Gastronomie schwer, sich zu halten. Gelsenkirchen ist als Stadt mit dem geringsten Pro-Kopf-Einkommen kein attraktiver Standort für Neuansiedelung in der Bahnhofstraße und ihrer Peripherie. 16.203 Euro verdient der Durchschnitts-Gelsenkirchener im Jahr, 1.350 € im Monat (Stand 2019). Das Ergebnis: Billigläden, die eine Käuferschicht entdeckt haben, die sparen muss.
Dass die soziale Frage bei der Zukunft der Innenstadtentwicklung mitgedacht werden muss, da waren sich die beiden Diskutanten des von den Gelsenkirchener Grünen veranstalteten Podiumsgesprächs einig. Eingeladen waren die Leiterin der Koordinierungsstelle Stadterneuerung, Irja Hönekopp, und Frank Eckardt, Ex-Gelsenkirchener und nun Professor für Sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar.
„Um die Situation in Gelsenkirchen zu verstehen, muss man sich die Zahlen genau anschauen. 1960 haben hier noch fast 400.000 Einwohner gelebt. Heute sind es 140.000 Menschen weniger. Das schlägt sich in der City nieder, das schlägt sich nieder in dem Problemimmobilienkontext und in leerstehenden Wohneinheiten. Derzeit haben wir in der Stadt 9.000 nicht bewohnte Wohnungen und Häuser“, umschreibt Irja Hönekopp den Ist-Zustand. Auf die City fokussiert analysiert sie diverse Probleme wie die hohe Bebauungsdichte und einen für Innenstädte ungewöhnlich hohen Anteil von Wohnbevölkerung, der immer größer wird. Vor allem leben hier junge Familien, viele Arme, viele Migranten. Lärmbelastung, wenig Erholungsflächen, Verkehrsschneisen rund um die Innenstadt, Müll und der hohe Versiegelungsgrad mit Hitzeinseln tun ihr Übriges.
Hönekopp zur Zukunft der City: „In den Innenstädten und auch hier in der Gelsenkirchener City wird es zukünftig sicher mehr kleinere Einzelhandelsbereiche geben. Die frühere Frequenz werden die meisten Innenstädte nicht mehr erreichen. Das wirft die Frage auf: Welche Bedeutung hat die Innenstadt überhaupt noch? Vielleicht wird sie dadurch wohnlicher, quartiersorientierter und sozialer.“
Sie glaubt, die City wird sich diverser aufstellen müssen. Als reine Einkaufsstätte wird sie keine Zukunft haben, so Hönekopp. Ohne Privatinitiative der Immobilieneigentümer wird eine diversere Nutzung mit kleineren Punkten wie Hinterhöfen zum Spielen, Verweilen oder Erholen kaum möglich sein. Hier könnten öffentliche Gelder nicht allein Veränderung schaffen.
Eckardt: „Die Innenstadt ist etwas besonderes, und gerade in einer Stadt wie Gelsenkirchen, die ihre Kräfte bündeln muss, ist die Innenstadt der Ort, der die ganze Stadt prägen soll. Mir vorzustellen, dass sie nur Wohnort werden soll, fällt mir schwer. Ich glaube, die Innenstadt bleibt weiterhin ein symbolischer Ort, mit dem sich die Menschen identifizieren. Sie hat eine gesamtstädtische Funktion.“
Frank Eckardt stimmt Irja Hönekopp in ihrer Analyse zu, dass die City als reines Einkaufsgebiet Geschichte sei, und sieht das Konzept von großen Warenangeboten wie bei Kaufhäusern verschwinden. Der Sozialwissenschaftler stellt die Frage nach der wirtschaftlichen Zukunft dieser Stadt, ohne deren Beantwortung alle Konzepte Makulatur seien. Dass Betriebe, Handwerk und Dienstleistungen in dieser Stadt existieren, würde er gerne in der Innenstadt sichtbar machen und diese dort vermehrt ansiedeln. Es würde ein Gemeinschaftseffekt entstehen. Der sogenannte Agglomerationseffekt. Nach dieser These würden sich dort, wo sich mehrere Unternehmen geballt ansiedeln, weitere hinzukommen.
„Man braucht einen neuen Anfang, der sichtbar kleinere Handwerksbetriebe, regional tätige Unternehmen und Dienstleister installiert. Auch Ausbildungsplätze müssten hier entstehen. Das wären zwar eher kleine Angebote, die aber eine große Ausstrahlungskraft haben.“
Vor großen Versprechen seitens Stadt und Politik warnt er, denn die könnten nur enttäuschen. Vielmehr müsse sich Stadtplanung auf kleine Einheiten konzentrieren, die man auch stemmen könne. Doch dazu brauche es flankierend eine starke Allianz aus Bürgern, Händlern und Immobilienbesitzern, die gewillt seien, sich einzusetzen und selbst auch Hand anzulegen. „Das kann ein Verein sein, das kann ein loser Verbund von Menschen sein, die etwas verändern wollen“, so Eckardt.
Adrianna Gorczyk, Moderatorin des Abends und Fraktionschefin der Gelsenkirchener Grünen, betont diesbezüglich das ambitionierte Konzept von drei parteilosen Bürgern Gelsenkirchens, die mit dem Vorschlag einer autofreien Innenstadt von der Stadtpolitik ausgebremst wurden. Hier versanden Ideen und Gestaltungswille der Bürger im parteipolitischen Machtwunsch der Großen Koalition aus SPD und CDU.
„Eventisierung“ der Stadt
Doch wie kann es realistisch aussehen, die Innenstadt zu verändern und zukunftssicher zu machen? Eine, wie er es nennt, „Authentisierung“ der Innenstadt hält Frank Eckardt für keinen geeigneten Weg, Menschen für die Innenstadt nachhaltig zu begeistern: „Es ist absurd, einen Feierabendmarkt zu machen und dann Zäune drumherum aufzustellen. Ein solcher Gedanke kann nicht Sinn einer Innenstadt sein, das ist einfach nur künstlich und nicht offen und einladend.“
Also doch das große Besteck aus der Schublade holen?
Bei der Frage von Gorczyk, ob die Stadt eine Gesellschaft gründen könne, die in der Innenstadt Immobilien aufkaufe, um bewusst dort Betriebe anzusiedeln, muss die Leiterin der Koordinierungsstelle Stadterneuerung etwas Wasser in den Wein gießen.
Für Irja Hönekopp ist die Idee ein charmanter Gedanke, der jedoch nur in langen Zeiträumen mit viel Engagement, Geld und einem guten Verhandlungsgeschick zu realisieren sei. „Denken wir an die Bochumer Straße, die seit zehn Jahren entwickelt wird. Hier zeigen sich jetzt endlich gute Effekte. Aber es hat gedauert, und – das gebe ich zu bedenken – es ist nur eine Straße.“ – Doch abtun will sie die Idee nicht, diese vielmehr in ihrem Hause vorstellen und besprechen.
Dennis Nawrot, Zuhörer an diesem Abend, will sich weder auf Verwaltungen noch Politik verlassen. „Wir haben ein zu starkes paternalistisches Verständnis in Gelsenkirchen, wie hier Sachen funktionieren. Wenn Papa kein Geld mehr hat, um zu helfen, dann muss man es selbst lernen und machen. Statt zu sehr auf Erneuerungsprozesse seitens der Stadt zu warten, müssen sich die Engagierten bündeln. Man kann Genossenschaften gründen und Häuser, Straßen oder Stadtteile selbst verändern“, plädiert er für mehr Eigeninitiative.