OTHERLAND oder: Digital ist nicht = smart

von Marit Rullmann

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Digitalisierung und Arbeit

Wir stehen bei der Digitalisierung noch ganz am Anfang. Der Dienstleistungssektor hat sich in den letzten Jahren bereits rasant verändert – immer mehr Menschen bestellen selbst Obst und Gemüse über Amazon und Essen bei Lieferando. Die Innenstädte veröden zusehends – besonders am Abend. Geliefert wird die Ware in der Regel von unterbezahlten Kurieren, meist als „Freelancer“ mit dem eigenen Fahrrad oder Auto unterwegs. Es könnte durchaus passieren, dass selbst diese mies bezahlten Jobs wegfallen, weil Unternehmen in nicht allzu ferner Zukunft mit Drohnen ausliefern. Logistikunternehmen haben stark zugenommen, weil inzwischen nicht nur jede Jeans, sondern auch der Joghurtbecher gewaltige Strecken zurückgelegt hat, bevor wir die Waren in GE kaufen können. Mit allen problematischen Umweltfolgen und sozial fragwürdigen Arbeitsbedingungen in den Ländern, die für uns produzieren. Weltweit erzeugte Waren gibt es inzwischen auch bei den Discountern – und der LKW-Fahrer (seltener die LKW-Fahrerin) wurde so zum meist ausgeübten Beruf in Deutschland. Nicht mehr lange – demnächst fahren die LKWs ja bekanntlich ebenfalls ohne Menschen. In den Call-Centern gibt es sie heute noch am Telefon – aber auch diese Tätigkeiten stehen zur Disposition: ob einfache Rechtsauskünfte, psychologische Beratung – demnächst wird dies mittels Digitalisierung und KI wieder eine Menge Arbeitnehmer*innen „frei“setzen. Was dann mit solcherart „erwerbsfreien“ Menschen passiert – dazu haben wir nicht nur in dieser Stadt viel Erfahrung sammeln können…

Notwendig wäre stattdessen, die Erwerbsarbeit endlich (geschlechter)gerecht zu verteilen. Damit alle mehr Zeit hätten für politische Beteiligung, Care-Arbeit, Eigenarbeit, Ehrenamt und Hobbies. Die dazu notwendige ökologisch-soziale Transformation der Gesellschaft wird von vielen schon lange eingefordert und beschrieben (u.a. Frigga Haug, Harald Welzer). Sie beinhaltet eine Umverteilung des wirtschaftlichen Ertrags und als Basis eine solidarische Bürgerversicherung. Solange jedoch der Umverteilungskampf von unten nach oben weitergeht; solange die Gewinne alleine den Stakeholdern, Investmentgroups und via Super-Boni den Top-Managern vorbehalten bleiben, statt den Menschen, die sie erarbeiteten, wird die Industrie 4.0 lediglich die Schar der Arbeitslosen und Niedriglöhner weiter vergrößern.

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Digitalisierung der Stadt
die smarte Stadt

Aus philosophischer Perspektive fehlt mir beim Thema Smart City der gesellschaftliche Diskurs. Die Frage(n), wie wollen wir in Zukunft zusammenleben, werden kaum diskutiert. Stetiges Wachstum der Wirtschaft – bis wohin? Zustand der bürgerlichen Demokratie – Rückschritt (AfD) oder Weiterentwicklung? Grundsätzlicher Stellenwert von Technik; wird sie als Unterstützerin des Menschen gesehen – zum Erleichtern von Arbeit, Ermöglichen von mehr Freizeit, um beispielsweise die Demokratie gemeinschaftlich weiter zu entwickeln? Oder werden Technik und Digitalisierung Hilfsmittel zum endgültigen Sieg einer marktradikalen Wirtschaft? Einer, in der die Demokratie nur noch die Aufgabe hat, diese Strategie zu verschleiern? Warum soll es eigentlich gut sein, dass wir uns total abhängig machen von immer mehr Energie in unserem Alltag (Stichwort: Smart Home). Und woher soll eigentlich in 50 Jahren der Strom dafür kommen? Wie viele zusätzliche und welche Kraftwerke benötigen wir für immer mehr Digitalisierung? Allein die Erzeugung und Verwaltung von Bitcoins benötigt bereits heute unvorstellbare Mengen von Rechen- und damit Energieleistung. Und was ist mit der Abhängigkeit von Konsumentinnen und Bürgerinnen von wenigen multinationalen Konzernen und den von ihnen aufgestellten Algorithmen, die zunehmend unser Leben beurteilen und bestimmen? Big Data ist bereits heute eine reale Gefahr. Auch in GE erhalten Menschen in bestimmten Adresslagen kaum noch Kredite, weil die Datensammlungen dort einen erhöhten Erwerbslosen- oder Ausländer*innen-Anteil verzeichnen. Und Smartphones sind ohnehin perfekte Abhörwanzen und Überwachungsgeräte. Mit jedem google-Klick perfektionieren wir unser digitales Profil; mit jeder What’s-up-Meldung liefern wir unser persönliches Kommunikationsnetzwerk an einige Großkonzerne, die es (heute noch!) für Werbezwecke nutzen. Und übermorgen?

In China kann man bereits beobachten, wohin eine solche Totalüberwachung führt. Big Data kontrolliert dort bereits die gesamte Gesellschaft. Jede(r) wird ständig mit einem Punktesystem sozial be- und abgewertet. Die Algorithmen entscheiden über Aufstieg und Fall, jede „Unbotmäßigkeit“, jeder Widerstand kann so sanktioniert und im Keim erstickt werden. Desinformation und Manipulation sind Tür und Tor geöffnet. Schöne neue Daten-Welt… Georg Orwell hätte sein „1984“ heute vielleicht „Microface 2025“ oder „2050 – Das Ende der Privatheit“ genannt. Ein heutiger Autor, Tad Williams, hat in seiner zwischen 1996 und 2001 veröffentlichten Tetralogie „Otherland“ bereits antizipiert, welche Gesellschaft uns drohen könnte, wer die wenigen Profiteure und die vielen Opfer der Entwicklung sein werden. Liest man die vier Bände im Jahr 2018 erneut, stellt man mit Schrecken fest, wie vieles von seiner Dystopie sich bereits verwirklicht hat.

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Digitalisierung der Schulen

Nachdem Deutschland diesen weltweiten Trend zunächst lange verschlafen hat, ist er wohl heute nicht mehr aufzuhalten. Die Zivilgesellschaft muss sich hier aber viel stärker einmischen. Wir dürfen das Feld nicht länger ausschließlich der Industrie überlassen, wie es die letzte Bildungsministerin Prof. Wanka tat. Sie gründete 2015 die Bildungsplattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“. Zu deren Beraterstab gehören alle wichtigen IT-Firmen von SAP bis Microsoft, dazu die Telekom, die IHK und diverse Wirtschaftsverbände. Nicht dazu gehören: Lehrer und Erzieherinnen, Medienpädagogen, Psychologinnen und Neurowissenschaftler. Frau muss keine Verschwörungstheoretikerin sein, damit hier alle Alarmlampen auf Rot schalten.

Einen positiven Nebeneffekt der allseits angegangenen Schul-Digitalisierung gibt es. Es stehen endlich wieder Mittel für die Gebäudesanierung zur Verfügung. Immer noch nicht ausreichend – aber es wäre doch zu peinlich gewesen, wenn die neuen Glasfaseranschlüsse eingerichtet werden, aber die Bauarbeiter*innen die Toiletten der Schulen nicht hätten benutzen können…

Es ist schon grotesk zu sehen, wie selbstverständlich die Generation der „digital natives“ das Smartphone nutzt – während es zugleich fast überall aus dem Unterricht verbannt wird. Wir benötigen dringend eine bessere Medienbildung. Jugendliche sollten endlich fit gemacht werden, auch für die negativen Herausforderungen, die mit der Nutzung der neuen Medien einhergehen. Dabei muss Medienpädagogik immer der Technik vorgehen. Medienabhängige haben wir schließlich schon genug. Nicht nur viele Jugendliche, auch sehr viele Erwachsene können ihr Handy selbst nachts nicht aus den Händen legen… Fährt man in Gelsenkirchen mit der Straßenbahn, wird man mit jeder Menge offenbar kommunikationsunfähiger Smartphone-Autisten konfrontiert. Ihr Zeigefinger fährt wild über den Bildschirm, während die starr darauf gerichteten Augen nichts mehr von der Umwelt wahrnehmen. Jugendliche, die vom einen Ende des Abteils zum anderen per Handy chatten, statt sich nebeneinander zu setzen und zu reden, sind schon fast die Regel, statt die Ausnahme.

Wir bräuchten also eine (Aus)Bildung zur verantwortlichen Medienkompetenz: Schüler*innen, die das Smartphone selbstsicher im Unterricht zu benutzen lernen, wenn es pädagogisch sinnvoll ist. Und die es genauso selbstverständlich zur Seite legen können. Die im Umgang mit Recherche und Fake News geschult, und mit den Gefahren von Cybermobbing vertraut sind. Was derzeit völlig fehlt, ist eine altersbezogenen Medienpädagogik. Immerhin nutzen bereits manche Vierjährige das Tablet und haben Zugang zu Handys. Zugleich nimmt die Lesefähigkeit von Kindern und Jugendlichen immer weiter ab.

Zentrales Thema einer Medienpädagogik, die den Namen verdiente, müsste die Entwicklung von Wahrnehmungen bei Kindern und die zunehmende Dominanz des Bildlichen vor dem (Zu)Hören und Lesen sein. Was bedeutet dies für die Entwicklungsprozesse von Kindern? Grundlegend sind schließlich immer die emotionale Bindungserfahrung und Bewegung – beides geht nicht digital. Deshalb müssen weiterhin Zuwendung, Reden, Bewegung, Spielen und Malen Vorrang haben, vor der Nutzung von Tablets oder Smartphones.

Die renommierte Pädagogin und Professorin Renate Zimmer vom Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (NIFBE) warnt sogar vor Lernapps für Kinder unter sieben Jahren. Kinder in diesem Alter müssten Lernerfahrungen handelnd bewältigen – nur so könnten sie deren Konsequenzen überprüfen. Dies geht aber nicht wischend und drückend. Kein Wunder, dass die meisten Erfinder und Entwickler der digitalen Welten in Silicon Valley ihre eigenen Kinder auf Waldorfschulen schicken. Wenn man das weiß, ist es höchste Zeit, unsere simple Digitalisierungsgleichung „Smart Home, Smart City und Smart School = alles wird besser und einfacher“ sehr gründlich zu überdenken.

Marit Rullmann, M.A. phil., ist Dozentin für Philosophie, Autorin und Bildungsreferentin und hält Vorträge und Lesungen an Universitäten, in Buchhandlungen und Cafés, Volkshochschulen und (Frauen)akademien in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Zusammen mit der Philosophin Annegret Stopczyk konzeptionierte sie 2000 die europaweit erste Wanderausstellung „Philosophinnen – Liebhaberinnen der Weisheit“. Seit 1989 moderiert sie „Philosophische Cafés“, eine Idee die sich inzwischen bundesweit durchsetzte. Rullmann lebt und arbeitet in Gelsenkirchen.

rullmann.kulturserver-nrw.de

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