Eine Rezension von Alexander Welp
Der Tod in Venedig als zündender Bühnenstoff
Vor über einhundert Jahren erschien die zweifelsohne düstere, bedeutungsschwangere und provozierende Erzählung von Thomas Mann – das Werk gilt bis heute als eines der großen Meisterwerke des Autors. Im Gegensatz zu den meisten anderen seiner Arbeiten fehlt der bedrückenden Novelle allerdings vollkommen das humoristische Element. Das Off-Theater Rottstraße 5 in Bochum zeigt eine für die Bühne perfekt zugeschnittene Adaption der Geschichte, die der kraftvollen Sprache von Thomas Mann in allen Belangen Tribut zollt, herausragend präsentiert wird und den Zuschauer, trotz der jammervollen Handlung, zum Lachen bringen kann. Regisseur Hans Dreher gelingt mit seiner Version ein gewaltiger Bogenschlag zwischen Spannung, Erschrecken und Groteske!
Der angesehene und erfolgreiche Autor Gustav Aschenbach verlässt seine Heimat, um in der Ferne das „Fremde und Bezugslose“ zu finden. Auf seiner Reise landet er in der anmutigen, pompösen und zugleich schaurigen Hafenstadt Venedig. In seinem Hotel kommt es zu einer schicksalhaften Begegnung: Der alternde Aschenbach erblickt in der großen Halle eine polnische Familie und den jungen Tadzio. Er verliebt sich augenblicklich in den gerade einmal vierzehn Jahre alten Jungen, dessen Aussehen Aschenbach als „göttlich schön“ beschreibt. Zunächst deutet der Autor seine Zuneigung und Faszination als Kunstauffassung für Ästhetik, doch bedrängt von unmoralischen Trieben verliert er sich immer mehr in der Schönheit des Knaben, den er tagtäglich am Strand beobachtet. Durch mysteriöse Umstände verschlechtert sich sein Gesundheitszustand soweit, dass Aschenbach beschließt, die Stadt zu verlassen. Diesen Plan verwirft er jedoch schnell, denn den Abschied von seinem geliebten Tadzio würde er nicht überstehen. Es stellt sich heraus, dass die örtlichen Behörden seit einiger Zeit den Ausbruch einer Seuche in der Stadt verschleiern. Unbeeindruckt von der drohenden Gefahr beschließt Aschenbach trotzdem in Venedig zu bleiben – ein folgenschwerer Fehler!
Hans Drehers Produktion besticht durch kunstvollen Einsatz der klassischen Sprache von Thomas Mann: Der im Original teilweise anstrengende Text wird hier in einer beispiellosen Leichtigkeit auf der Bühne verarbeitet. Den andauernden Verfall des Protagonisten zu betrachten, sorgt beim Zuschauer für einen permanenten Spannungsanstieg. Schauspieler Maximilian Strestik mimt einen Aschenbach, dem man zu jedem Zeitpunkt seine Verzweiflung, seine Liebe und sein Bedauern abnimmt. Über die vollen 90 Minuten des Theaterabends bietet Strestik eine Darstellung, welche durch ihre unheimliche Präsenz begeistert. Begleitet wird er dabei von Christoph Iacono, der immer wieder in verschiedene Nebenrollen schlüpft und mit wahnwitzigem Pianospiel für eine beklemmende Atmosphäre sorgt. Die Choreografie, bei der Iacono den Ausbruch der Seuche in der Stadt beschreibt, verdient besondere Anerkennung: Mithilfe eines gewaltigen Wollknäuels steckt er den gesamten Spielraum in polizeilicher Manier als Tatort ab, wirft die rote Kugel an Scheinwerfern vorbei, unter der Bühne hindurch und bahnt sich seinen Weg durch das Publikum – eine beachtliche Leistung mit grandiosem komödiantischen Faktor! Insgesamt ist das auch die größte Stärke der Inszenierung – die Ernsthaftigkeit der grausamen Geschichte über einen verfluchten Charakter, gepaart mit ironischen Darbietungen par Excellence. Abgerundet wird das Ganze durch einen hervorragenden Einsatz von Licht und Technik, welche die Bühne, die zum Schluss einem Schlachtfeld gleicht, in absoluter Schaurigkeit erstrahlen lassen. Dreher gelingt mit seiner Produktion etwas Großes: Ein Drahtseilakt zwischen dem Vortrag einer kontroversen Erzählung und den spielerischen und unbeschwerten Elementen einer Tragödie. Eine in sämtlicher Hinsicht lohnende Theatererfahrung!