Spazierengehen in Buer
von Denise Klein
„Ich unterstütze den Antrag für eine allgemeine Impfpflicht ab 18. Nur so erreichen wir eine Impfquote, die ein Ende der Pandemie ermöglicht. Die vergangenen Monate haben aber gezeigt, dass zu viele Menschen in unserem Land nicht geimpft sind und wir nicht allein auf die Freiwilligkeit setzen können. Leider weiß niemand, wie sich das Virus entwickeln wird, deswegen ist es besser, vorbereitet zu sein. Eine hohe Impfquote kann uns in einer möglichen nächsten Welle große Vorteile verschaffen, sowohl im Gesundheitssystem als auch in der Wirtschaft. Die Debatte im Bundestag war erst der Beginn der Aussprache über eine Ausgestaltung der Impfpflicht. Ihre Wichtigkeit bleibt aber für mich unumstritten.“
So Markus Töns (SPD), Bundestagsabgeordneter für Gelsenkirchen über eine Debatte, die wohl derzeit mehr als alle anderen Themen die Bürger umtreibt. Ob Töns mit „unumstritten“ die Wichtigkeit der Debatte oder die Impfpflicht meint, kann so oder so gelesen werden. Klar ist, dass die medizinische Sinnhaftigkeit einer Impfpflicht immer mehr hinterfragt wird; politisch, epidemiologisch und auch gesellschaftlich.
Töns´ Haltung zu einer anvisierten Impfpflicht, wie auch immer sie ausgestaltet sein mag, deckt sich wohl mit der Mehrheitsmeinung im Kabinett und auch der Bundesbürgerinnen und -bürger. Laut dem ZDF-Politbarometer sprachen sich Mitte Januar 62 % der Befragten dafür aus, 36 % waren dagegen. Doch was Mitte Januar noch Trend ist, muss in einigen Wochen längst nicht mehr so sein. Zumindest das haben wir schon aus den letzten zwei Jahren Covid-19 erfahren. Aber wo Mediziner entwarnen, Juristen vor der Verfassungswidrigkeit warnen, bleibt der Bundestag bei den Argumenten der Vergangenheit. Die Impfpflicht sei der einzige Weg aus der Pandemie.
Gegen diese Sicht wehren sich jede Woche in ganz Deutschland zehntausende Menschen, die auf die Straße gehen, um gegen die aktuelle Coronapolitik der Bundesregierung zu demonstrieren. Genaue Zahlen, wie viele Menschen es genau sind, sind nicht zu bekommen; so wird seitens der Polizei die Teilnehmeranzahl geschätzt, – meist weniger – und auf Seiten der Organisatoren die Zahlen ebenfalls grob gepeilt – meist mehr.
Relativ leicht einzuschätzen war die Teilnahmebereitschaft am 24. Januar 2022 in den frühen Abendstunden in Buer. Rund 200 Menschen, so schätzen wir, versammelten sich zum Spaziergang gegen die Coronamaßnahmen im Allgemeinen und die drohende Impfpflicht im Besonderen. Ruhig, in Gespräche vertieft, lief man zusammen. Keine Parolen, keine Musik, keine Trommeln. Noch nicht einmal Plakate. Das Ordnungsamt lief nebenher, bat hin und wieder um Abstand oder darum, die Masken auszusetzen.
Wir sind auf diesem nicht offiziell angemeldeten Spaziergang in Buer mitgegangen und mit einigen der Teilnehmer ins Gespräch gekommen. Wir wollten wissen, was der Beweggrund ist, auf die Straße zu gehen. Wir wollten wissen, ob man nicht Angst habe, als rechts zu gelten. Wie beurteilen diese Bueraner die derzeitige Coronapolitik, und sind wirklich alle ungeimpft? Nach der Schuhgröße wollten wir nicht fragen, das ist nämlich immer noch Privatsache.
Thomas H.* (33), Öffentlicher Dienstag
isso.: Die Demo oder der Spaziergang hier durch die Buersche Innenstadt ist nicht das erste Treffen. Offiziell gibt es keinen Veranstalter, weshalb die heutige Veranstaltung als „Nichtgenehmigte Versammlung“ läuft. Wie haben Sie denn von dem Treffen erfahren?
Thomas H.: „Ich habe über eine Kollegin an meiner Schule mitbekommen, dass es hier in Buer Spaziergänge gegen die Impfpflicht gibt. Ich habe kein Problem damit, dass sich jemand entscheidet, sich impfen zu lassen. Ich habe zwei Freunde selbst zum Impfen hingefahren. Aber ich nehme für mich die Freiheit der eigenen Entscheidung in Anspruch, so wie ich das auch jedem anderen zugestehe. Ich bin kein Impfgegner an sich, ich möchte mich nur nicht impfen lassen müssen. Ich bin gegen alles Mögliche geimpft, aber eben mit lang erforschten Impfstoffen, die gut erforscht sind. Klar, jeder Impfstoff hat Nebenwirkungen, aber bei den bekannten Impfungen wie gegen Tetanus oder Kinderlähmung sind die Nebenwirkungen überschaubar und über Jahrzehnte erfasst. Und zu der Frage nach den Coronaimpfstoffen gebe ich allen, sowohl Impfgegnern als auch Impfbefürwortern, die gleiche Antwort: Die Untersuchungen laufen, keine voreiligen Schlüsse ziehen! Nichtsdestotrotz weiß ich natürlich nicht, ob meine Haltung, mich nicht impfen zu lassen, die richtige oder die falsche ist. Das wird sich am Ende herausstellen. Und es ist ja nicht so, dass ich alles rundheraus ablehne. Wenn die Polizei sagt, dass wir hier und heute die Maske aufsetzen müssen, dann ist das das kleinste Übel, um meine Rechte wahrzunehmen. Begeistert bin ich nicht, aber ich will auch keinen Ärger machen. Und so konnte ich bei der Demo mitlaufen. Alles cool.
Unsere Innenministerin Nancy Faeser hat kürzlich über Twitter ihren Appell wiederholt, man könne seine Meinung auch kundtun, ohne sich gleichzeitig an vielen Orten zu versammeln. Wie kommt das bei Ihnen an?
Das Recht, zu demonstrieren, ist ein Grundrecht, und das ist im Grundgesetz verankert. Ich muss keine Bedingung erfüllen, um es wahrzunehmen, und ich muss nicht darum bitten. Ich habe etwas das Gefühl, die Bundesregierung hat die Bodenhaftung verloren. Darüber zu diskutieren ist schon unnachvollziehbar, da bin ich einfach raus.
Nun ist überall zu lesen, dass diese Demos recht heterogen seien, Rechte aber eine große Rolle spielten. Haben Sie Angst, als rechts gestempelt zu werden?
Das ist mir eigentlich egal. Wir leben in sehr empfindlichen Zeiten, und da kommen Titulierungen wie rechts oder Nazi manchen leicht über die Lippen. Das muss man aber nicht so ernst nehmen. Aber trotzdem bin ich dafür, mit jedem über alles zu sprechen, seine Meinung kundzutun, aber immer respektvoll und angemessen. Das gilt für beide Seiten. Anfangs hat mich das etwas mitgenommen, wer will das schon? Aber ich weiß, wie ich denke, wie ich handele, und das ist nicht rechts. Und nur, weil ich mich nicht impfen lassen möchte, bin ich nicht plötzlich rechts oder unsolidarisch. Solidarität drückt sich für mich im konkreten Miteinander aus. Nicht abstrakt mittels Gang zum Impfzentrum.
Da überall 2G gilt, können Sie an vielen Angeboten des öffentlichen Lebens nicht teilnehmen. Wie gehen Sie damit um?
Praktisch. Wo ich hin kann, gehe ich hin. Und das andere muss ich eben sein lassen. Dass ich nicht mehr ins Fitnessstudio kann, macht mir schon zu schaffen. Aber, nun ja, so ist es eben.
*Name geändert, Name d. Red. bekannt
Tanja Kempgens, (36)
isso.: Wie haben Sie über diese Spaziergänge erfahren?
Tanja Kempgens: Ich arbeite in der Innenstadt in Buer und habe gesehen, wie die Spaziergänger hier vorbeigegangen sind. Und dann habe ich nachgefragt, was Sache ist. Und dann war schnell klar, worum es sich handelt. Und dann haben wir uns angeschlossen.
Haben Sie keine Berührungsängste gehabt, dass Sie vielleicht mit Rechten oder Querdenkern mitlaufen könntest?
Nein, dieses Stigma sehe ich hier nicht.
Würden solche Leute hier offensichtlich mitlaufen, würden Sie trotzdem mitgehen?
Nein. Ich kenne hier viele Menschen persönlich. Viele Ärztinnen und Ärzte, die ich kenne, laufen mit. Außerdem auch sehr viele Bueraner, die Rang und Namen haben, von denen ich hundertprozentig weiß, dass es keine Nazis etc. sind. Und deshalb habe ich auch ein gutes Gefühl, hier mitzumachen.
Was ist ihr persönlicher Grund, sich diesem Spaziergang anzuschließen?
Ich bin der Meinung, dass jeder Mensch selbst entscheiden soll, ob er sich impfen lassen möchte oder nicht. Und weil ich die Maßnahmen in vielen Punkten für unplausibel halte. Warum darf ein nicht geimpfter Mensch, der sich testet, nicht in ein Restaurant gehen dürfen? Und Geboosterte können überall ohne Test hinein, obwohl mittlerweile allen bekannt ist, dass diese Gruppe ebenfalls Virusüberträger ist.
Haben Sie Kinder?
Ja, 16 und fünf Jahre alt.
Das heißt, Sie wissen einmal querbeet, wie sich die Maßnahmen auf Kinder in unterschiedlichen Altersgruppen auswirken.
Auf jeden Fall. Für den Großen bedeuten diese Einschränkungen über die ganze Zeit hinweg, dass er nicht mehr zum Fußballspielen kann. Er hat für sich entschieden, sich nicht impfen zu lassen. Nicht mehr zum Sport zu können, ist für ihn das Schlimmste.
Wie sieht es mit der Impfbereitschaft bei seinen Klassenkameraden aus?
Er ist einer der wenigen, die nicht geimpft sind. Aber, Gott sei Dank, gibt es keine Ausgrenzung und alle gehen sehr frei und locker miteinander um. Da sind die Jugendlichen oft weiter als die Erwachsenen.
Dirk Niewöhner, 57, Buchhändler
isso.: Wir haben schon mit einigen Teilnehmern gesprochen, warum sie heute dabei sind. Den meisten geht es um die Wahrung der eigenen Entscheidungsfreiheit ins Sachen Impfpflicht. Was ist Ihr persönliches Motiv, mitzulaufen?
Wie viele andere Menschen habe ich mein ganz eigenes Anliegen, weshalb ich montags mitspaziere. Ich finde die Maßnahmen mittelgut bis unverständlich finde. Ich habe mich schon über die ersten Lockdownmaßnahmen geärgert, die mich als Geschäftsmann viel Geld gekostet haben. Ich konnte nie nachvollziehen, warum man beispielsweise bei DM oder Aldi dicht gedrängelt einkaufen darf, jedoch im Textilgeschäft nicht. Ich verstehe diese Regeln nicht. Für mich sind diese Regeln in erster Linie dazu da, die Leute zum Impfen zu zwingen. Ich bin nicht überzeugt davon, dass das der richtige Weg ist, aber da kann man auch geteilter Meinung sein. Das gehört zur Demokratie auch dazu.
Als Einzelhändler sind Sie von den Regeln besonders betroffen gewesen und sind es auch immer noch. Hat das die Skepsis verstärkt?
Ich habe auch schon bei den ersten Lockdowns nicht verstanden, warum man beim Marktkauf Bücher, Haushaltswaren und Spielzeug kaufen kann, im Fachhandel aber nicht. Wieso das ein Konjunkturprogramm für Onliner ist und warum wir unsere Hilfen zurückzahlen müssen? Da gibt es ganz viele ungeklärte und unglückliche Dinge, die sich auch sehr ungerecht anfühlen. Mir geht es darum, dass man Maßnahmen gut begründen muss und idealerweise auch evaluieren muss und nicht einfach immer und immer wieder wiederholt. Was gerade passiert mit 2G und 2G+ ist faktisch ein Lockdown, bei dem keine Hilfen gezahlt werden müssen. Das wurde zwar in einigen Bundesländern schon gekippt, andere Bundesländer scheinen sich daran nicht orientieren zu wollen. Auch bei den wirren Maßnahmen, was die Änderung des Genesenenstatus oder Johnso&Johnson-Impfungen angeht, ist es nicht anders. Man erkennt keine Linie und hat das Gefühl, es endet nie. Politik muss auch ein Ausstiegsszenario haben, wie man es in anderen Ländern sieht. Ich würde mich freuen, wenn man auch mal nach links und nach rechts schauen würde. Darüber hinaus bin ich auch sehr unglücklich über das Zahlen- und Datenchaos. Deutschland ist diesbezüglich unterirdisch. Man kann sich nicht mehr sicher sein, ob die Zahlen, die das RKI oder Bund heute veröffentlichen, nicht nächste Woche schon wieder einkassiert werden. Da will ich nur an die „Pandemie der Ungeimpften“ erinnern, die sich in Hamburg oder Bayern auf journalistische Recherche hin nicht haben bestätigen lassen.
Ich bin ja nicht selbständig geworden, wie viele andere auch, weil ich ein betreutes Leben wünsche. Ich kann ganz prima allein klarkommen. Ich entscheide meine Handlungen allein, ich trage das Risiko für mich, meinen Betrieb und meine Mitarbeiter, und ich zahle auch dafür. Ich zahle im Übrigen auch für die Lockdownmaßnahmen von meinem eigenen Geld, insofern kann ich es noch viel weniger ertragen, bevormundet zu werden und draußen im Park oder in der Innenstadt mit einer Maske spazieren zu gehen. Das empfinde ich als furchtbar, zumal es wissenschaftlich belegt ist, dass an der frischen Luft so gut wie kein Übertragungsrisiko besteht. All diese kleinen Maßnahmen verärgern und führen dazu, dass man den größeren Maßnahmen eher ablehnend gegenübersteht.
Markus Töns, SPD-Bundestagsabgeordneter aus Gelsenkirchen, sieht in der Impfpflicht den einzigen Weg aus der Pandemie. Hat er Recht?
Die Argumentation von Markus Töns kann ich absolut nicht nachvollziehen, denn ich habe gelernt, dass man sich mit der Impfung selbst schützt. Das Narrativ, dass die Kinder, die nicht geimpft sind, am Ende die Oma umbringen, finde unsäglich, ja fast schon strafbar. Es ist aber auch nicht nachvollziehbar, denn entweder schützt eine Impfung – dann ist sie gut, oder sie schütz nicht. Dann sollten sich die gefährdeten Gruppen etwas besser selbst schützen. Ob die Impfung uns alle wieder frei macht? Diese frage allein erscheint mir als liberalen Menschen schon eine Katastrophe. Grundrechte haben wir immer, und wenn diese eingeschränkt werden, muss das mit guten Gründen unterfüttert sein. Für den Anfang der Pandemie kann ich das alles völlig nachvollziehen. Wir wussten ganz wenig, alle hatten Angst. Darüber hat sich auch niemand aufgeregt. Aber wir haben jetzt zwei Jahre Erfahrungen sammeln können, und die Begründungen der Grundrechtseinschränkungen, die immer noch gelten, sind eher waghalsig als nachvollziehbar. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Zahlen und Daten nicht klar sind. Ich würde mir mehr Offenheit und Klarheit wünschen, und dann wäre ich auch viel mehr mit dem Herzen dabei. Denn an sich stört mich eine Impfung nicht, ich habe mich auch gegen viele andere Sachen impfen lassen. Aber da wusste ich, dass die Impfung funktioniert. Und dass das Schaden-Nutzen-Verhältnis in Ordnung ist. Gerade bei Omikron verhindern die Impfstoffe keine Infektionen und Weitergabe. Man sagt, sie verhindere einen schweren Verlauf, dann ist es wieder ein klassischer Eigenschutz. Dann mag sich auch jeder gerne impfen lassen. Aber man kann die Leute nicht dazu zwingen.
Ungeimpften wird nachgesagt, sie würden sich gesamtgesellschaftlich unsolidarisch verhalten. Ist das so?
Ich finde nicht, dass es Solidarität ist, sich mit wenigen vulnerablen Gruppen beschäftigt und dafür die ganze Gesellschaft in Fesseln legt, plakativ gesprochen. Man muss schauen, dass beides funktioniert. Und grundsätzlich sind ja alle bereit, sich an Maßnahmen zu halten. Sie müssen nur sinnvoll und gut begründet sein, sie müssen überprüft und immer wieder hinterfragt werden. Und diese Anliegen sind die Gründe, weshalb ich montags mitgehe.
DAS SAGT DIE POLIZEI
Matthias Büscher, Erster Kriminalhauptkommissar und Katrin Schute, Polizeihauptkommissarin
isso.: Herr Büscher, Frau Schute, was schätzen Sie, wie viele Menschen waren heute bei diesem Spaziergang?
M.B.: Da müsste ich gleich noch einmal genau nachfragen, aber ich schätze, es waren etwa 100 Leute.
War die Versammlung angemeldet?
M.B.: Nein. Diese Spaziergänge, die hier regelmäßig stattfinden, werden nie angemeldet.
Wie geht man als Polizei dann mit dieser Situation um?
M.B.: Wir haben ja Kenntnis über die Versammlungen. Wir klären im Vorfeld die Menschen darüber auf und suchen uns jemanden, der sich bereit erklärt, als Versammlungsleiter zu agieren. Mit diesem besprechen wir dann den Marschweg und kooperieren wir mit denen.
Wir hatten beim Mitlaufen den Eindruck, dass das ganze sehr friedlich und sehr zivilisiert abgelaufen ist.
M.B.: Absolut. Hier hat niemand skandiert. Hier gab es auch keine Plakate. Alle sind über den vorher abgeklärten Gehweg gegangen und haben sich an die Vorschriften gehalten.
Wie lange geht das hier in Buer schon?
M.B.: Seit Mitte Dezember.
Katrin Schute: Auch wenn kein Versammlungsleiter bei einer nicht angemeldeten Versammlung erkennbar ist, ist es kein Straftatbestand, mitzugehen. Normalerweise müsste man diese Versammlungen anmelden. Aber das Versammlungsrecht ist ein hohes Gut, und deshalb schützen wir natürlich auch diese Versammlung.