Demokratie ist eine Kunst

Startschuss für vierjähriges Großprojekt in Gelsenkirchen und Herten

Wie viel Demokratie ist in der Kunst enthalten? Wo treffen sich Meinungsfreiheit und die Freiheit der Kunst? Was kann Kunst für die Demokratie leisten? Mit diesen Ausgangsfragen beschäftigen sich die 11 Künstlerinnen rund um das Projekt Demokratie ist eine Kunst. Ganz im Sinne der Kunst soll es während der nächsten vier Jahre in den Stadtteilen Gelsenkirchen-Hassel, Herten-Westerholt und Herten-Bertlich zum Diskurs mit den Bürgerinnen kommen. Mitbestimmung, miteinander leben und erleben sowie die Neugierde auf Kunst und die damit verbundene Demokratie stehen im Fokus des Projekts. Neben mehreren Gemeinschaftsaktionen stehen zudem acht Soloprojekte aus den Bereichen Theater, Tanz, Fotografie, Musik und bildende Kunst auf dem Programm. Bereits im März finden die ersten Termine für den Zuhörpavillon statt.
Im Interview verraten Komponist und Pianist Michael Gees sowie Schauspieler Ulrich Penquitt, welche Ziele sie für das Projekt verfolgen, welche demokratischen Eigenschaften Kunst besitzt und erklären, dass das gesprochene Wort auch einfach mal gelten darf.

Michael Gees

„Demokratie ist eine Kunst“ – der Titel dieses Kunstprojekts birgt viel Raum für Interpretation. Wie kann man die Bezeichnung verstehen?
Michael Gees: Ich verstehe den Titel so, dass es schwer ist, Demokratie aufrecht zu erhalten. Eben weil dies so schwer ist, ist es eine Kunst. Kunst besitzt eine Eigenschaft, die sehr demokratisch ist, weil sie allgemein verbindlich ist. Um verbreitet Anerkennung zu erhalten, muss Kunst jeden etwas angehen. Jeder muss sagen können: „Ja, davon habe ich gehört, das habe ich erlebt und daran habe ich teilgenommen!“ Kunst hat die Kraft, Menschen, welche vielleicht auch ernsthaft verfeindet sind, über alle Differenzen hinweg zu verbinden. In dem Sinne ist die Demokratie gerade in unserer Zeit, in der so viele divergierende Kräfte aktiv sind, eine Kunst.

Ulrich Penquitt

Wie entstand die Idee für das Projekt?
Ulrich Penquitt: Der Impuls für diese Idee kam Anfang letzten Jahres aus dem Stadtteilbüro in Herten-Westerholt. Dort gab es für Künstler*innen aus Gelsenkirchen und Herten den Aufruf, Projekte unter diesem Oberbegriff einzureichen.

In den Stadtteilen, in denen das Projekt stattfinden soll, liegt die Wahlbeteiligung nur bei ungefähr 50 %, was dafür spricht, dass der Zugang zu demokratischen Prozessen eher niedrig ist. Welche Gründe gibt es Ihrer Meinung nach dafür?
MG: Unter den vielen Ursachen gibt es eine, die ich nennen will. Die Konstruktionen des Zusammenhalts wie Bergwerke, Siedlungen, Kaufläden und Kirchen, in denen man sich ständig begegnet ist, sind so nicht mehr da. Jetzt stellt sich die Frage: Was tritt an dessen Stelle? Die Ratlosigkeit ist groß, und so schnell, wie dieser Strukturwandel vonstatten ging, konnten die Menschen ihre Schalter gar nicht umlegen. Die Menschen müssen mehr und mehr aus eigener Initiative für sich sorgen. In dieser kritischen Zeit ist dieses Demokratie-Projekt im Grunde unsere Initiative – Zusammenhalt kommt nicht von selbst.


Also besitzt dieses Projekt den Anspruch, die Bürgerinnen für Demokratie zu begeistern?

UP: Ich denke nicht, dass dieses Projekt eine Dimension einnehmen wird, sodass die Leute danach vermehrt wählen gehen. Für mich sind eher andere Zusammenhänge spannend. Wenn ich mit den Teilnehmerinnen meines Bürgersprechchors die Arbeit beginne und sich die Leute währenddessen mit der Sprache auseinandersetzen, hoffe ich, dass ein demokratischer Prozess einsetzen wird. Das wäre für mich der große Mehrwert. Der politische Aspekt wäre dabei gar nicht der Hauptpunkt. Im Fokus steht eher das gemeinsame Erschaffen in einem demokratischen Umfeld. Besonders schön wäre es natürlich, wenn die einzelnen Soloprojekte nicht nach den angedachten vier Jahren aufhören, sondern Anklang finden und weiterlaufen.
MG: Für mich wäre das große Ziel, dass aus diesem Projekt qualifizierte Menschen herauskommen.


Was meinen Sie mit qualifiziert?

MG: Gesprächsfähig, lustig, geistesgegenwärtig und vertraut im Umgang mit improvisierten Situationen. Man kann von keinem Gespräch vorab wissen, wie es läuft – von keinem. Sich darauf im Alltag immer wieder neu einzustellen, diese Überraschung zu wollen, und das in die tägliche Intentionalität mitzunehmen, wäre ein großer Gewinn.


Insgesamt soll es acht Soloprojekte geben. Wie läuft die Planung?
UP: Wir stehen im engen Austausch mit dem Stadtteilbüro, welches als Koordinator fungiert. Mit der Westerholter Zeche gibt es für uns dort auch Raum für verschiedene Veranstaltungen und Kurse. Im Westerholter Kunsthof wird mit dem Zuhörpavillon zudem unsere erste Aktion stattfinden.
Zuhörpavillon – was hat es damit auf sich?
MG: Ulrich und ich werden zu Gesprächen einladen. Es ist eine Einladung, uns etwas zu erzählen. Die Spielregel ist, dass wir keine Kommentare dazu abgeben. Wir werden während dieser Gespräche beispielsweise nicht entgegnen: „Ich finde aber, dass … !“.
Von unserer Seite werden lediglich Verständnisfragen gestellt. Wir werden das, was uns während der jeweils halbstündigen Gespräche gesagt wird, gelten und so stehen lassen. Dadurch wird Demokratie lebendig.
UP: Jeder ist willkommen. Jeder findet bei uns ein Ohr. Auch wenn wir dort länger als die angedachten drei Stunden sitzen – wir werden niemanden wegschicken. Vor Ort werden wir draußen einen Pavillon zur Verfügung haben, können aber auch in Räume ausweichen, wenn es zu kalt wird oder Menschen wegen Corona Bedenken haben. Wobei wir natürlich noch gar nicht einschätzen können, welche Räumlichkeiten die Menschen eher brauchen, um sich öffnen zu können. Darf es ein offener Raum sein oder ist Intimität wichtiger? Beide Versionen werden wir allerdings bedienen können.


Und in diesem Setting dürfen die Leute alles sagen, was ihnen auf dem Herzen liegt?
MG: Als ich klein war, gab es noch ganz viele dieser Parkbankgespräche, wo sich fremde Menschen gegenseitig Dinge anvertraut haben. So etwas sehe ich heute seltener. Wir geben mit dieser Aktion aber ausdrücklich die Gelegenheit dafür. Dadurch, dass es keine Widerrede geben wird, darf das Gesagte gelten.


Rein theoretisch: Während der Aktion fallen absolut rassistische Äußerungen. Was passiert dann?
MG: Natürlich wäre es schauerlich, aber es darf gelten.


Zudem soll es ein sogenanntes Kunstlabor geben. Ein Ort zum Austausch für die Künstlerinnen?

UP: Unter anderem. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass die Künstlerinnen dort über die Erfahrungen aus den einzelnen Projekten erzählen. Synergien und Impulse für gemeinsame Aktionen sollen in diesem Labor geschaffen werden.
MG: Mit dem Wort „Netzwerk“ tue ich mich immer schwer, denn das können auch Computer. Beziehungen können nur Menschen. Diese sollen zwischen den Künstler*innen entstehen. Die prozessuale Dynamik ist mir dabei sehr wichtig. Gegenseitiges Beitragen und Verständnis sind in diesen Zusammenhängen essentiell. Auch das ist ein fein verästelter, demokratischer Vorgang. Man muss sich dafür demokratisch qualifizieren! Wenn man keine künstlerische Kritik vertragen kann, wäre es fatal. Kunst ist schwer. Dafür muss man sich zurücknehmen, disziplinieren, am Ball bleiben und über Unlust triumphieren. Die Beschäftigung mit Kunst ist die Anleitung und schrittweise Qualifikation zum Handeln aus Liebe. Wenn man das tut, kann man auch mit Menschen auskommen – und das wäre Demokratie.

Zuhörpavillon
Westerholter Kunsthof
Am Bungert 18-19, 45701 Herten
04. & 18. März 2022 / 01. & 22. April 2022
Jeweils von 15 bis 18 Uhr
Anmeldung:
Tel.: 0209-613048 oder E-Mail: uptodance@gmx.de

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