Denise Klein/ Foto: Ralf Nattermann
Es gibt selten den einen Grund, weshalb sich Menschen dem extremistischen Salafismus verschreiben. Doch es gibt gut erkennbare Verhaltensweisen, Kleidungscodes und eine Sprache, die Hinweise gibt, dass sich jemand in die Radikalität entwickelt. Mitte Dezemeber fanden sich Pädagogen, Jugendsozialarbeiter und Mitarbeiter der Stadt Gelsenkirchen im Wissenschaftspark ein, um sich über das Thema „Die gefahren des Salafismus“ zu informieren. Dr. Irfan Ortac, Lehrer beim Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe gab einen kurzen Einblick in die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die man „keinsfalls als jugendliche Subkultur“ bezeichnen dürfe, da die meisten Salafisten nicht aus ihrer Ideooigie herauswachsen würden. Besonders gefährdet sind zwei Gruppen, so Ortac. Zum einen würden sich Studenten unter 35 Jahren, die für ihr Studium nach Europa einreisten, zum anderen radikalisierten sich die Söhne und Töchter von hier lebenden Migranten, die schon in der dritten oder vierten Generation in Deutschland leben. „Diese jungen Menschen sind auf der Suche nach einer Identität“, so Irfan Ortac. Er nennt diese Gruppe „Generation Haram“, die sich mit strengen, islamischen Regeln auch gegenseitig unter Druck setzen würden. Darauf müssten Pädagogen mit klaren Grenzen reagieren, sich gegen Unterdrückung von Mitschülerinnen und Mitschülern stellen.
Der Salafismus gilt sowohl in Deutschland als auch auf internationaler Ebene als die zurzeit dynamischste islamistische Bewegung. In Deutschland verzeichnet das salafistische Spektrum seit Jahren steigende Anhängerzahlen. Lag die bundesweite Zahl der Salafisten im Jahr 2011 noch schätzungsweise bei 3.800 Personen, beläuft sich das aktuelle salafistische Personenpotenzial auf ca. 7.500 Anhänger (Stand: Juni 2015), so das Bundesamt für Verfassungsschutz. Aktuellere Zahlen liefert die Behörde nicht, allerdings beobachtet der Verfassungsschutz mit Sorge die Versuche radikaler Islamisten, unter Flüchtlingen neue Mitstreiter anzuwerben. „Es gibt bislang mehr als 340 Fälle, die uns bekannt geworden sind“, erklärte Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur. „Aber das sind nur die, von denen wir erfahren haben. Vermutlich gibt es mehr Fälle.“
Interessante und erhellende Innensichten über einen solchen Radikalisierungsprozess gab der eingeladene Aussteiger Dominik Schmitz. Heute ist er 28 Jahre alt, und vor 11 Jahren traf er während einer orietnierungslosen Zeit nach der Schule einen ehemaligen Freund. „Er stand vor meinem Fenster, schwärmte von seiner Entdeckung der Religiösität und wirkte so, als habe er den Sinn des Lebens erkannt. Das hat mich tief beeindruckt“, erzählt Schmitz. Diese Begegnung trifft ihn, den eigentlich zum Perfektionismus neigenden jungen Mann, Polizistensohn und Scheidungskind in einer Zeit, in der er viel kifft, nicht arbeitet, keine Ausbildung macht. Die Einladung dieses ehemaligen Kumpels in die Moschee nimmt er an. Und anscheinend füllt dieser Besuch in der Moschee ein Vakuum in ihm.
Der damals 17-Jährige begegnete direkt bei seinem ersten Besuch in dieser Moschee Sven Lau, einem der führenden Salafisten in Deutschland. Lau, Szenestar, selbst Konvertit und ehemaliger Feuerwehrmann in Wuppertal, wurde durch seine Sharia-Polizei-Aktion bekannt. Den großen Einfluss, den Sven Lau oder auch sein Glaubensgenosse Pierre Vogel auf junge muslimische Menschen ausübt, schreibt Dominik Schmitz der unglaublichen Kraft und Streuungsbreite von Internet und Youtube zu. „Wenn ich mir heute einen Turban aufsetze, fünf Sätze auf Arabisch auswendig lerne und ein bisschen emotional werde, bin ich in der Szene von heute auf morgen ein Star,“ so Schmitz in einem Interview, das er der Süddeutschen Zeitung gab. Was genau er im Islam und danach im Islamismus suchte und fand, sind simple Antworten. Struktur, Regeln, Anerkennung und Geborgenheit. Und, ja auch das, eine gefühlte Überlegenheit der restlichen Gesellschaft gegenüber. „Der schlechteste Salafist ist immer noch besser als der beste Ungläubige“, so Schmitz. Wie ein Rebell habe er sich anfänglich gefühlt, wenn er, gekleidet im Dresscode der Salafisten, angefeindet wurde. Sein Alltag veränderte sich immer mehr. Keine westliche Musik mehr, öfter beten als verlangt, den Koran quasi pausenlos lesen, denn das erhöht das Standing in der Gemeinschaft. Die aufgezwungenen Keuschheit begegnete er mit einer Hochzeit mit einer Gläubigen, der er zugeführt wurde. „Ich wollte auch eine heile Familie“, erzählt er. Die Ehe hielt nicht an. Auch heute noch, nach dem der sich nach sechs Jahren vom radikalen Islam losgesagt hat, ist er Moslem. Aber er will einen, Verständnis erwirken. Auch deshalb besucht er Schulen und klärt über seine Vergangenheit auf. „Ich weiß ja, wie die Jugendlichen sich fühlen, die sich vom Salafismus angezogen sind.“ Bildung alleine ist für ihn nicht das alleinige Allheilmittel. Um dem Salafismus zu widerstehen oder sich von ihm abzuwenden, gehörten viele Aspekte. Ein intaktes Umfeld, ein gesundes Selbstbewusstsein, berufliche Zukunftsaussichten. In Domonic Schmitz´ Gemeinschaft gab es nur zwei junge Männer, die studierten oder beruflich erfolgreich waren. Die Mehrheit lebten aber von Hartz IV.
Dass immer mehr seiner ehemaligen Glaubensbrüder und -schwestern nach Syrien gehen, um dort beim IS zu kämpfen, hat für ihn auch mit der Perpektivlosigkeit hierzulande zu tun. Die jungen Menschen werden mit Aufstiegsversprechen gelockt, die viele junge Salafisten hier in Deutschland nicht sehen. Ihr Weltbild ist klar in Glübige und Kuffars (Ungläubige) unterteilt, auf die man heruntersehen, die man hassen und bekämpfen kann, sogar muss. Ob es sich beim 16-jährigen Gelsenkirchener Yusuf T., der angeklagt ist, als Haupttäter für einen im April verübten Anschlag auf ein Gebetshaus der Essener Sikh-Gemeinde verantwortlich zu sein, um ähnliche Beweggründe handelte, sich dem Salafismus zu verschreiben, mögen Experten sicher besser zu beurteilen. Allerdings war der Schüler für seine radikalen Äußerungen bekannt und musste am Präventionsprogramm gegen gewaltbereiten Salafismus „Wegweiser“ teilnehmen. Verhindert hat das den Anschlag nicht, aber das Umfeld eines Jugendlichen zu schulen und für Veränderungen zu sensibilisieren, kann nie der falsche Schluss sein.