von Astrid Becker
Das Jahr 2016 ist nun bald Geschichte, und der obligatorisch gewordene TV-Jahresrückblick wird eine Aneinanderreihung von Gesichtern sein. Es werden die Gesichter der in diesem Jahr verstorbenen Künstler und Autoren, Musiker und Politiker sein. Sie haben uns über viele Dekaden
geprägt, begleitet, erfreut oder auch verärgert, sie waren im Wortsinne herausragende Zeitgenossen. Angesichts dessen beklagt so mancher, dass diese Menschen nicht nur eine mehr oder weniger große Lücke hinterlassen werden, sondern dass es nicht mehr genug derartige Persönlichkeiten und Könner gebe, die nachrücken und die Leere füllen könnten. Ist es also tatsächlich an dem, dass wir nun nur noch Mittelmaß in allen wichtigen Bereichen zu erwarten haben? Sind wir sicher, dass im Nachwuchsmusiker von Heute nicht doch etwas steckt, das die Welt berücken, dass der jungen Schriftstellerin kein großer Wurf gelingen und es keinen Politiker von Format mehr geben wird?
Sollte das Vertrauen dahinein derartig gering sein, stellen wir uns selbst ein deutliches Armutszeugnis aus und sollten dringend noch einmal genauer hinschauen. Bauen wir nicht auf die Potentiale unserer Kinder, Schüler und Schülerinnen, Auszubildenden und Studierenden?
Ist die Arbeit von Musik- und Kunstschulen, politischer Bildung, allgemeinbildenden Schulen und Universitäten obsolet? Dann sollten wir diese Angebote sofort überdenken, verändern oder ganz schnell einstellen. Ein Blick auf unsere Bildungslandschaft verrät: Sie ist äußerst vielseitig, aber nicht jeder kann mit gleichen Chancen daran teilhaben. Das gilt für junge Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen ebenso, wie für jugendliche Flüchtlinge, die entweder monatelang auf einen Schulbesuch warten müssen oder gar keinen Platz mehr erhalten, so wie kürzlich durch Birgit Naujoks, Sprecherin des Flüchtlingsrates NRW, beklagt. Ein bundesweites Bündnis von Landesflüchtlingsräte, Vereinen und Verbänden hat daher erst im Oktober dieses Jahres die Kampagne „Schule für alle“ gestartet.
Aber auch für den klassischen Schulbesuch sieht die Bertelsmann Stiftung im Ländervergleich von Türkei bis Island in Deutschland nach wie vor die schlechtesten Zugangsvoraussetzungen für all diejenigen, die nicht schon zuhause mit Buch und Bildung aufwachsen. Eine der Bertelsmann Stiftung angegliederte Institution, der Chancen-Spiegel, zeigt für NRW eindeutig unvorteilhafte Werte in den Bereichen Durchlässigkeit (nach oben!) und Kompetenzförderung. Kümmern wir uns also nicht genug darum, dass das Potential dieser Kinder und Jugendlichen auch an die Oberfläche gelangen kann? Dann machen wir uns schuldig, schuldig an der nachrückenden Generation, die wir den Bildungs- und Vorbildauftrag, der an uns Erwachsene mit und ohne eigene Kinder herangetragen wird, so unzureichend ausführen. Dazu wird es nicht kommen, wenn wir die uns mittlerweile eindrücklich vorgeführten Defizite im System angehen und wirklich beseitigen wollen und die Bedürfnisse aller Menschen nach Bildung ernst nehmen. Es soll tatsächlich immer noch Pädagogen geben, die kurz vor Jahresende Viertklässlern aus ALG II-beziehenden oder ausländischen Familien das Ticket in Richtung Sackgasse ausstellen, wobei sich keine Schulform angesprochen fühlen sollte, sondern die Lehrkraft, die diesen Kindern aus wirtschaftlichen oder rassistischen Segregationsgelüsten oder aber vorauseilenden Visionen vom Scheitern keinen Platz an der dem Potential des Kindes entsprechenden Einrichtung zuweisen will. Hat man als deutscher Schüler einen Notendurchschnitt von eins bis zwei, steht der Gymnasialempfehlung nichts mehr im Wege, ist man zum Beispiel türkischer Herkunft, kann man nur zu 70% darauf hoffen. Das belegen Erhebungen des Forschungskonsortiums „Migration und gesellschaftliche Integration“ der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Wer glaubt, dass ein Kind aus einem wirtschaftlich schwachen oder mit Migrationsgeschichte verbundenen Hintergrund (bitte verwenden Sie nie wieder den Begriff „sozial schwach“ in diesem Zusammenhang!) keinen Hunger nach Bildung, nach schulischem oder wirtschaftlichem Erfolg habe, handelt grob menschenverachtend und läutet maßgeblich die Totenglocke für kulturelle und wirtschaftliche Prosperität. Es wird zwar keinen David Bowie oder Guido Westerwelle mehr geben. Und davon können und sollten wir uns in jedem Fall in Frieden verabschieden. Aber: Dass noch nicht alles verloren ist, sieht man, wenn man im Netz einfach mal das Wort „Nachwuchskünstler“ mit dem Zeitfenster „Nachrichten aus dem vergangenen Monat“ eingibt. Sie werden erstaunt sein, dass zum Beispiel der Deutsche Musikwettbewerb, der erstmals in Leipzig ausgetragen wird, eine in seiner Geschichte nie dagewesene Rekordhöhe an Anmeldungen zu verzeichnen hat. Dass es in „Jugend forscht“ regelmäßig erstaunliche Entdeckungen gibt, ist da schon ein alter Hut.
In Gelsenkirchen könnte allerdings noch eine Schüppe draufgelegt werden. Hier finden sich auch 2016 kaum Angebote, die auch überregional interessant wären, sieht man einmal vom Eurasia-Kulturverein in Ückendorf ab, der koreanischen Ausnahmetalenten seit Jahren eine Plattform bietet, die im Stadtgeschehen jedoch von zu wenig konstruktiver Aufmerksamkeit begleitet wird, was übrigens weder den sehr isoliert lebenden Jugendlichen, die hier völlig ohne Eltern groß werden, noch der Stadtgesellschaft zu Gute kommt. Hier ist also noch ganz viel Luft nach oben, die Poetry Slams des Spunk sind da ein guter Weg und auch so manch vielleicht noch zu verstecktes Projekt für den ambitionierten Nachwuchs. Übrigens: Die isso.-Redaktion freut sich über Ihre und Eure Meldung über diesen und jenen kreativen Nucleus der Stadt! Jammern über Vergangenes gilt nicht, wir sind wichtig! Sie und Sie und ich, und wenn wir vielleicht auch nicht weltberühmt sind, haben wir doch einen verantwortungsvollen Job zu tun: Die Probleme und Chancen von 2016 sehen, an/packen und sie ab 2017 in etwas Gutes verwandeln. Bedeutet konkret: Die gute Arbeit der vielfältigen Bildungseinrichtungen mit aktivem Interesse, bedeutet auch: konstruktiver Kritik, Veranstaltungsteilnahme, Präsenz und (an die Stadtverwaltung) mit noch größerem Budget, unterstützen, außerdem eigenen und anbefohlenen Kindern, Jugendlichen und junge Erwachsenen die Vielzahl an Wegen aufzeigen, sie auf diesen begleiten und ihnen Orientierung sein. Das Motto für 2017 also lautet: Geben wir dem Nachwuchs eine Chance!