„Setz die Ente auf’s Wasser“

Zum Tod von Paul Baumann


Kommt ein Rheinländer ins Ruhrgebiet …
Nein. Kommt ein waschechter Rheinländer ins knöcherne Westfalen.

Ein Freund ist gegangen, persönlich, aber vor allem auch im Sinne eines „Menschenfreundes“ – ein Mensch mit Haltung, mit einer Unbedingtheit, die sich jedoch stets auf dem Hintergrund einer inneren Zerrissenheit zu bewähren hatte … als Rheinländer in Westfalen – geboren im ersten März nach dem Krieg in Bonn, die Mehrzahl seiner Jahre aber in Gelsenkirchen gelebt – gerieben zwischen Herkunftsfamilie, Eltern und vier Schwestern, und neuen Wirkungskreisen – später als Vater zweier Töchter, eine Familie, von der er sich mit der Entscheidung fürs Ruhrgebiet trennt – beruflich mitten im Spannungsfeld zwischen Amt, Verwaltung und freien Künsten – und dann als Geist mit natürlichem Intellekt zwischen Arbeit und Denkerbourgoisie, ein Getriebener zwischen Vision und Pragmatismus … Paul Baumann war immer irgendwie dazwischen, sowohl hier, als auch da zugehörig. Wie lebendig man aber auch zwischen den Stühlen präsent sein kann!

Nach Gelsenkirchen kam der Bonner über Oberhausen. Begonnen hat der Feinmechaniker-Geselle nach zweitem Bildungsweg als Sozialpädagoge, leitete in Tackenberg ein Haus der offenen Tür. Die Falken, die Sozialdemokraten, ÖTV, der Jugendring – dies scheinen natürliches Umfeld für einen wachen, engagierten „Herzenslinken“ gewesen zu sein, für einen allerdings, der sich stets seinen Status als erkämpfter Akademiker beweisen musste. Paul Baumann hat gerne und nicht ohne Koketterie tief gestapelt, um sich dann dennoch umso weiter über sich hinauszulehnen – visionär, in der Verrücktheit mancher Ideen und in der Reibung mit Politik und Intellekt, von dem er selbst behauptete, dass er ihn nicht besitze. Paul war arbeitendes Kaufmannskind, auch in der Umsetzung von Theorien.
In Gelsenkirchen schließlich fing er beim Jugendamt an. Die eigeninitiierte Gründung des SPUNK als „Festspielhaus“ fällt in diese Zeit. Schon dort pflanzte er diverse sozialkulturelle Pflänzchen in die Stadt, die es ohne ihn nicht gegeben hätte. Als legendär gilt bis heute der Weihnachtsbaumverkauf der SPUNKER als Unterstützung ihrer Konzert- und Literaturevents. Unter anderem konnte Pauls bevorzugter Lyriker eingeladen werden: Erich Fried.
Schon in dieser Zeit bemühte Paul Baumann sich auch persönlich um Förderung einzelner Künstler in der Stadt. Dies hat er bis zum Schluss betrieben, wo immer es ihm möglich war, unauffällig, unmittelbar, oder etwa in der Hilfestellung bei Anträgen.
Seinen Wirkungskreis erhöhen konnte er dann ab 1989. Zwanzig Jahre war er im Gelsenkirchener Kulturreferat für die „Freie Kultur“ zuständig, und dies inklusive der Möglichkeit, auch stadteigene Kulturimpulse in den öffentlichen Kunsterlebnisraum zu setzen.

Da hatte er spätestens begonnen, seine vielfältige Zerrissenheit zu bewältigen zu suchen … Aber wie? Zähigkeit war ihm mitgegeben, Ehrlichkeit, Zuverlässlichkeit – dies dann eher tatsächlich westfälische Zuschreibungen. Ein streitbarer Aktivist war er, der sich für seine Werte – Demokratie, Kreativität, Menschlichkeit – im Miteinander auch dominant zeigen konnte. Reibung hat er nicht nur hervorgebracht, sondern geradezu gesucht. Dabei war ihm Verhärtung ein Greuel. Er stritt immer mit der Absicht, Konflikte aufzulösen, weiterzuführen.
Wo aber blieb der rheinische Frohsinn? Explodierend vor Lust und Gelächter hat man Paul eher selten erlebt. Allerdings war er von feinem Humor, unter anderem gerne wortwitzig. Sein Humor war immer ernsthaft, sein Ernst immer auch voll ironisch-hintergründiger Aromen. Festzulegen war der nie, der Baumann, jedenfalls nicht im öffentlichen Diskurs. Im beständigen Ringen um Erkenntnis und das beste aller Ergebnisse für jedes einzelne „seiner“ Projekte verfing er sich mit seinem kritischen Widerhaken auch schon mal in Widersprüche. Das war Paul Baumann bewusst. Immer wollte er herausfinden, wie man etwas noch passender, noch zielgenauer, noch wirksamer würde umsetzen können. Es war manchmal kaum zu erkennen, aber Paul hat zugehört, manches Mal erst im zweisamen Gespräch, dort dann aber intensiv. Mit seinem unverzüglichen Weiterfragen hat er kritisch versucht, verschiedene Meinungen und Ideen zur gemeinsamen Entfaltung kommen zu lassen.
Dies wurde vielfach kaum erkannt, weil er vielleicht zu selten gelassen gewirkt, seinem Gegenüber nicht immer erlebbar Zeit gegeben hat, während er selbst schon im Kopf mit hinzugewonnenen Aspekten an bestimmten Plänen weitergebastelt hatte.

In Hierarchien hat er sich nie recht einordnen können und wollen. Das freie und ungebundene Arbeiten an der Sache, oft genug mit ungezählten Stunden über formelle Dienstvereinbarungen hinaus, das war eher sein Ding. Selbstbestimmung war ihm wichtig. Selbstbestimmt für Mitbestimmung sorgen bedeutete also die Gratwanderung für diesen Kämpfer um die beste aller Welten. Paul Baumann war damit ein schillerndes Beispiel für Individualität mit demokratischer Überzeugung und damit auch für die täglichen Reibungsverluste, die dieses Spannungsfeld hervorruft.

Ein Dickkopf, ein Kritiker vor dem Herr‘n (vor welchem auch immer), so hat er sich selbst bezeichnet. Paul wusste sehr genau um sein Image auf dem öffentlichen Kampfplatz kommunaler Sozial- und Kulturpolitik, auf dem es um Meinungen, Wirksamkeit und Demokratieverständnis geht. Einem Parteieintritt folgte fast zwangsläufig ein Parteiaustritt. Als Fisch im Sternbild schwimme er immerzu gegen den Strom, hat er gesagt und sich dabei als Einzelkämpfer empfunden, oft beiseite lassend, dass mit ihm durchaus ein ernst zu nehmend großer Schwarm gegen und manchmal mit dem Strom schwamm.

Paul Baumann hat geradezu zu Missverständnissen animiert. Seine regelmäßigen Rundmails an unterschiedliche Verteiler und Adressat:innen seines Freundes-, Bekannten- und Verwandtenkreises sind seit Jahren legendär. Authentisch, spontan, ehrlich, das waren Pauls unmittelbare Reaktionen auf gesellschaftliche, kommunale und immer häufiger auch private Geschehnisse, die er mit diesem wie für ihn erfundenen Medium zum Ausdruck brachte. In der Frequenz, in unangemessener Langwierigkeit und komplexen Aneinanderreihungen von Sichtweisen, Ideen und Forderungen, begannen seine Pamphlete dabei häufig zu nerven. Sie führten dazu, dass sich einige abwendeten, manche fingen an, seine Mails stillschweigend gar nicht mehr erst zu öffnen. Die Mahnungen dieser Rundbriefe, Pauls innere Not, nicht schweigen zu können, haben nur wenige akzeptieren wollen.

 

Dabei war er persönlich recht uneitel, der Paul. In Bezug auf von ihm erfundene und ins Leben gerufene kommunale Kulturerlebnisräume in Gelsenkirchen war ihm eher das Fehlen einer angemessenen Würdigung dieser Projekte selbst ein unbefriedetes Ärgernis. – Dies eine Reihe von Labeln, die – auch unter unterschiedlich nötiger Mithilfe anderer, ja – ohne Paul Baumann nicht zu Leuchtschriften im Selbstverständnis der Stadt geworden wären:
Kauft kein Kriegsspielzeug, Rocktheaterfestival, Folk-Festival, SommerSound, Solo Virtuos, Her(t)zklopfen, Klezmerwelten, Nachtschalter, Jazz auf Consol, Drachenfest auf Consol, Musikreihe in der flora, Wort & Klang, Konzerte … Erinnert sei u.a. an Jan Garbarek und das Hilliard Ensemble – allesamt Foren des Kunstgenusses für alle und kulturelle Bereicherung für eine Vielzahl von zur jeweiligen Zeit noch jungen und auch damals schon älteren Teilen der Stadtgesellschaft.

Sicher hat ihn sein Interesse an komplexer, unterschiedlicher Musik dafür qualifiziert, war er doch u.a. auch schon als Jugendlicher als Rockbandleader aktiv, an den Drums natürlich, taktgebend. Darüber hinaus trieb ihn aber auch sein unbedingter Ehrgeiz, Menschen in Begegnung zu bringen, mit sicherem Händchen atmosphärisch dichte Orte und Gelegenheiten zu schaffen, an denen ganz im Sinn eines demokratischen Kunst- und Kulturverständnisses ein Miteinander erlebbar und geteilt werden kann.

Es bleibt erstaunlich, wie eine so reichhaltige Staffel klangvoller Projekte ausgerechnet in Gelsenkirchen hat umgesetzt werden können. Denn Paul Baumann kam, als die Fördermöglichkeiten in der Ruhrgebietsstadt schon längst auf Seilfahrt waren. „Wir haben kein Geld, aber wir machen was draus“, mit diesem Wahlspruch konnte ein Erfinder und Praktiker wie Paul Baumann seinen Kulturdezernenten oft genug zum Abnicken auch gewagter Unterfangen bewegen. Seine tatkräftige, stets unterstützende Begleitung in der Gründungsphase des Consol Theaters unterliegt ebenfalls diesem Motto. Mit Punkten hinter Sätzen hat sich ein Paul Baumann nie zufrieden gegeben. Er gefiel sich eher als kreativer Fragensteller. „Warum nicht?“ Wenn es es darum ging, „Kunst unter die Leute zu bringen“, wieso nicht einfach mal …?

 

Setz die Ente auf’s Wasser, dann siehst du ja, ob sie schwimmt.
Oder ob jemand drauf schießt.“

Kultur für alle, das bedeutet auch Kultur mit allen. Da hatte der langjährige Dezernent Peter Rose durchaus einen passenden, zupackenden „Kulturarbeiter“ gefunden, einen Macher, ja – aber die grundlegenden Entwürfe stammten ja ebenfalls oft genug vom späteren Umsetzer selbst.

Die Impulse gingen Paul Baumann auch im Rentenalter nicht aus. Steinbruch Demokratie. Er gab die Versuche nicht auf, die Stadtgesellschaft zum Disput aufzurufen, zur Mitwirkung einzuladen, sich präsent zu zeigen im öffentlichen Ringen um Werte und Entwicklungen. Immer galt es, eine künstlerische, politisch gesinnte Gemeinwesenarbeit gegen die zunehmende Ökonomisierung in Stellung zu bringen, gegen „den Strom“. Immer noch galt es für ihn, Orte zu kreieren, und dies gar nicht unbedingt im großen, ausladenden Stil, sondern viel näher sogar waren Treffpunkte in Läden und in Winkeln öffentlicher Plätze gemeint. Wenn vielleicht eine Mahnung hinterbleiben möchte, die aus Pauls Mund ähnlich klang wie aus den Forderungen diverser Mitstreiter:innen in der Stadt, dann die, dass wohl auch kulturell in Zukunft wieder sehr viel mehr in lokale Strukturen investiert werden sollte.

Am 6. Februar, kurz vor seinem 77. Geburtstag, ist Paul Baumann nun nach langer, chronischer Krankheit gestorben. Er hinterlässt seine geliebte, zweite Ehefrau, zwei Töchter, und drei Enkel, die ihn noch als liebevollen Großvater haben erleben dürfen.
Niemand von uns empfängt nun mehr eine seiner Rundmails. Also müssen wir selbst wach bleiben. Und die nächsten SommerSounds, umsonst und draußen, miteinander genießen.

 

André Wülfing (r.) hat mit Weggefährten, Freunden und Freundinnen von Paul Baumann (l.) gesprochen. Herzlichen Dank für Eure Beiträge.

André Wülfing
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3 Gedanken zu “„Setz die Ente auf’s Wasser“

  1. Ich bin Einer der Rundmails, die Paul regelmäßig verschickt hat.
    Gelegentlich auch täglich.
    Paul war für mich die rühmlich Ausnahme im damaligen
    SPD-Mehrheits-Getümmel.Er war differenziert und kritisch.
    Nach langen Auseinandersetzungen mit meinem damaligen
    Arbeitgeber, dem Jugendamt Gelsenkirchen und der Stadtspitze
    floh ich damals aus Gelsenkirchen nach Hattingen und arbeitete
    in einer Fachklinik für Suchtkranke in Velbert-Langenberg.
    Mit Paul hatte ich immer wieder persönlichen Kontakt- mal bei meiner Geburtstagsfeier in unserer Wohngemeinschaft im Sauerland,mal beim Paul in Rotthausen.
    Als ich in Hattingen die Initiative“Demokratie lebt vom Widerspruch“
    gründete,war Paul bei der ersten Veranstaltung persönlich anwesend.
    Ihm war der direkte Kontakt der Menschen zur Verwirklichung ihrer Ideen wichtig.Immer wieder schob er ihre Interessen an oder formulierte neue Gedanken, die er mit Vehemenz vorantrieb.
    Der Kultur blieb er sein Leben lang eng verbunden.
    Viele Kulturprojekte wurden von ihm ins Leben gerufen.
    Mir gefiel seine sehr direkte Ehrlichkeit und sein Mut, Dinge zu äussern, die sich Andere nicht trauten.
    Manchmal schien er die Realität der politischen Verhältnisse nicht
    wahrzunehmen oder er ignorierte sie.
    Paul war anstrengend. Die ständige Auseinandersezung mit ihm hat mich überfordert und irgendwann habe ich auch kapituliert und mich
    auf seine mails nicht mehr gemeldet.
    Und trotzdem wurde ich mit seinen mails weiter beliefert.
    Aus seinem Leiden an Krankheiten oder den Verhältnissen in der Stadt hat er nie
    einen Hehl gemacht. Jetzt, wo er tot ist, fehlt er mir.
    Mach`s gut,Paulemann,wie er sich selbst oft nannte,
    wo immer du auch jetzt bist !

  2. Dieser Beitrag erklärt ihn. So war er und ich bin immer wieder erstaunt das keine Mails mehr kommen! Sie waren wichtig, hatten Inhalt aber überforderten mich mit meinem Spatzenhirn teilweise doch sehr! Er sitzt im Cafe und liest Isso und schmunzelt auf seine ganz besondere Art!
    Hei Bruderherz, ich hoffe es geht dir gut!
    Schwesterherz Margarete
    Danke für diesen Beitrag!

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