Das deutsche Bildungswesen kämpft nicht zuletzt seit Beginn der Corona-Pandemie mit großen Problemen: Unterichtsausfall durch Krankheit, ein Mangel an Lehrkräften sowie defektes Equipment erschweren den Schulalltag massiv. Besonders schwer betroffen sind die Schulen in Gelsenkirchen, doch auch in unseren Nachbarstädten sieht es oftmals nicht besser aus. Wir sprachen mit einem Deutsch- und Mathematiklehrer an einer Herner Realschule. Im ehrlichen Gespräch berichtet er über den Stress im Lehrerberuf, erklärt, warum ein duales Studium während der Ausbildung von Lehrer*innen sinnvoll wäre und gibt einen Ausblick auf die Unterrichtsqualität unter dem Aspekt der Digitalisierung.
Das Interview führte Alexander Welp
Wie viele Kinder sind durchschnittlich in einer Klasse?
Das ist ganz unterschiedlich und kommt einerseits darauf an, ob Kinder mit Förderbedarf Teil der Klasse sind oder nicht. Falls ja, sind die Klassen grundsätzlich schon etwas kleiner. Andererseits sind die höheren Jahrgangsstufen meist kleiner. Man kann bis zur siebten Klasse aber mit 25 bis 30 Schüler*innen pro Klasse rechnen, darüber hinaus sind es meist maximal 25.
Inwiefern wird das Thema im Lehrerzimmer diskutiert? Gibt es ein Bewusstsein für strukturelles Versagen?
Lustigerweise gibt es immer wieder Studien darüber, dass die Klassengröße keinen Unterschied bezüglich des Lernerfolgs spiele. Im Lehrerzimmer ist man aber grundsätzlich eher der Meinung, dass eine geringere Klassengröße den Unterricht grundsätzlich vereinfacht und man als Lehrkraft besser auf die individuellen Probleme der Kinder eingehen könnte.
Das Problem ist da aber eher, dass es mittlerweile zu wenig Lehrer*innen gibt, hinzu kommen dann Neuerungen im Lehrplan und in der Politik, die für Mehrarbeit bei uns sorgen. Und mit Unterrichtsvor- und -nachbereitung ist man wöchentlich nicht so wenig ausgelastet, wie viele Menschen denken. Der Arbeitstag endet da eben nicht um 14 Uhr.
Wie viele Stunden fallen in der Woche anhand einer Klasse gemessen im Durchschnitt aus?
Das ist ganz abhängig von der Jahreszeit, die Zeit von den Herbst- bis zu den Osterferien ist da schon deutlich stressiger als die Sommermonate. Da kann es schon mal sein, dass eine Klasse fast komplett mit Vertretungsunterricht oder Unterrichtsausfall belegt werden muss. Daher kann man das gar nicht so pauschal sagen. Aber mit drei Stunden schätzt man wohl gar nicht so schlecht auf eine Woche gesehen.
Hat sich der Krankenstand seit Corona verschlimmert oder verbessert?
Als die Quarantäneregelungen noch bei Erstkontakt in Kraft getreten sind, haben natürlich unfassbar viele Kolleg*innen gefehlt, gleichzeitig wurden aber auch ganze Klassen in Quarantäne geschickt. Jetzt fallen wenn noch einzelne Schüler*innen mit Corona aus, wenn aber die Lehrer*innen ausfallen, macht sich das für das restliche Kollegium umso mehr bemerkbar, schließlich muss dann für die jeweilige Zeit der Unterricht vertreten werden. Schwieriger ist es aber erst, wenn Long-Covid ins Spiel kommt und die Kolleg*innen immer wieder krank sind, weil die Belastbarkeit abgenommen hat oder andere Erkrankungen hinzugekommen sind. Es ist also zumindest nicht besser geworden.
Werden Schülerinnen und Schüler in Deutschland gut ausgebildet? Werden lernpsychologische Standards berücksichtigt?
Wir versuchen natürlich, die Schüler*innen bestmöglich auszubilden, da spielen allerdings unfassbar viele Faktoren auch eine Rolle. Haben alle Schüler*innen die Voraussetzungen, um an der jeweiligen Schule zu bestehen? Wie ist die Unterstützung von zu Hause? Wie kommt das Individuum in der Klasse zurecht? Welche anderen Probleme und Sorgen hat das Kind?
Ich glaube, die Kinder und Jugendlichen können nach wie vor gut ausgebildet werden, allerdings haben wir auch immer wieder Fälle, wo persönliche Schwierigkeiten dazwischen kommen. Was ist, wenn ein Kind ein Familienmitglied verliert, wenn die Eltern sich trennen oder einfach Schwierigkeiten haben, mit sich selbst zurecht zu kommen? Was, wenn ein Kind neu ist? Man kann es ja nicht grundsätzlich anders bewerten, nur weil es länger braucht, um sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Ohne Noten hätten wir als Lehrer*innen es da auf jeden Fall leichter.
Warum sind Sie persönlich Lehrer geworden?
Ich habe nach dem Abitur ursprünglich eine Ausbildung angefangen, aber schnell gemerkt, dass ich mich in dem Berufsfeld nicht wohl fühle. Ich wollte mit Menschen arbeiten und ihnen möglichst helfen. Und jeder Mensch, auf den man einen positiven Einfluss hat, ist für mich einfach ein Erfolg.
Sollte die Regierung die Hürden für Quereinsteiger herabsetzen?
Nicht nur für Quereinsteiger. Besonders auch Lehrer*innen, die im Ausland arbeiten, haben einen unglaublich langen Weg, bis sie hier unterrichten dürfen und den gleichen Stellenwert haben wie hier ausgebildete Lehrer*innen. Dabei sollte durch den Wechsel zum Bachelor-Master-System eine Internationalisierung stattfinden. Ich würde gleichzeitig auch die Lehramtsausbildung zu einem dualen Studium machen. Die Grundlagen in der Universität sind zwar wichtig, doch die Praxis ist durch nichts zu ersetzen. Hohe Abbruchquoten im Studium gehen bestimmt auch auf die theoretische Ausbildung und die zu geringen Praxisphasen zurück.
Was müsste passieren, damit die Schule wieder zu einem guten Ort für kognitives, soziales und persönlichkeitsbildendes Lernen und Wachsen wird?
Schule ist all das, nur nicht jedes Kind erlebt das oder nimmt das so wahr. Es wird definitiv versucht, kognitiv zu fördern, doch die sozialen Aspekte überwiegen meist. In einer Klasse, in der das soziale Miteinander gar nicht stimmt, kann man nicht erfolgreich unterrichten. Da wird aus Lehrer*innenseite auch so viel Zeit investiert, besonders bei den umso jüngeren Schüler*innen, um möglichst früh die Grundsteine gelegt zu haben. Insgesamt wären mehr Lehrer*innen wohl die Lösung, aber wir sind ja bei weitem nicht die einzige Branche, die mit Personalmangel zu kämpfen hat.
Die Digitalisierung an Deutschlands Schulen liegt deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Wie sehr schränkt mangelndes Equipment, schlechtes WLAN den Schulalltag und die Unterrichtsplanung ein?
Der Unterricht hat zu meiner eigenen Schulzeit ja auch noch gut ohne den Fortschritt im Bereich der Digitalisierung funktioniert, daher ist die Einschränkung eher relativ zu sehen. Schwieriger ist es, wenn immer mehr Equipment, mit dem man eigentlich geplant hat, defekt ist. Die Digitalisierung ist jedoch eine große Chance für uns, die Individualisierung des Unterrichts für einzelne SuS wird so vereinfacht. Und zudem ist es natürlich auch spannender, wenn kurz ein Video in den Unterricht eingebunden wird, ohne dass man den alten Videowagen quer durch das Gebäude schieben muss. Je weiter die Digitalisierung mit funktionierendem Equipment steigt, umso mehr wird auch die Unterrichtsqualität steigen, aber da sind wir grundsätzlich auf einem guten Weg.
Hat sich das soziale Miteinander der Schüler in den letzten Jahren (mit Blick auf Corona) verändert?
Ich denke schon, wobei sich das in der Offline-Kommunikation mittlerweile wieder einigermaßen normalisiert. Man merkt vielen SuS noch an, dass die Situation für sie viele Schwierigkeiten mitgebracht hat. Besonders die Klassen, die erst während der Corona-Krise „entstanden” sind, hatten es da ziemlich schwer, sich aneinander zu gewöhnen. Dennoch gibt es besonders online Auffälligkeiten, gerade das Thema Cybermobbing ist akuter geworden. Da ist dann eine gute Zusammenarbeit zwischen Lehrer*innen, Schüler*innen und den Eltern gefragt.
Vielen Dank für das offene Gespräch.