Vom Flöz auf die Leinwand
Zur ExtraSchicht 2023 erwacht auf Zeche Westerholt die lange geplante Video-Kunstinstallation „Panorama des Ruhrgebiets“ des 2016 verstorbenen, ehemaligen Bergmanns und Künstlers Many Szejsteckis zum Leben.
Viele feine, miteinander verbundene Tuschelinien mit akkurat gesetzten Knotenpunkten ziehen sich als Strukturnetz über großflächige Leinwände. Hinzu kommen detailgetreue Bergbaupanoramen, die das Ruhrgebiet von unten darstellen. Das sind sicherlich die charakteristischsten Merkmale von Many Szejsteckis überdimensionalen Werken von Flözen aus einer faszinierenden Perspektive, die auch international Bekanntheit erlangt haben. Seine Exponate findet man u. a. im Ruhrmuseum auf Zeche Zollverein, an der Haltestelle am Bismarcker Trinenkamp und im Bergbaumuseum in Bochum. Sogar im Deutschen Museum in München stellte er aus.
Selbst im niedrigsten Streb, auf dem Bauche kriechend, ging mir das Bewußtsein von Raum, ausgedehnt bis zur Landschaft und darüber hinaus zu den Wolken, die Orientierung zu den Punkten im Grubengebäude, nicht verloren. Die Gedanken, wie Strahlen, ziehen Linien durch den Raum, die sich von Punkt zu Punkt überschneiden und Netze bilden, nicht um sich darin zu verfangen, sondern um im unendlich erscheinenden Raum Halt zu finden.
Many Szejstecki
Der Arbeiterkünstler
Bergmann, Bergingenieur, Zeichner, Grafiker, Maler, Objekt- und Videokünstler – so lauten seine beruflichen und künstlerischen Stationen laut Wikipedia-Eintrag. 1976 ist er Gründungsmitglied der Künstlergruppe werkstatt e. V. an der Hagenstraße in Buer, wo er sich vor allem nach dem Ende seiner Karriere als Bergmann auf Zeche Westerholt 1984, voll und ganz kreativ auslebt. Die in dieser Zeit entstandenen Werke präsentiert er regelmäßig im In- und Ausland, so dass auch der WDR auf ihn aufmerksam wird und die halbstündige Dokumentation „Die Zeche hat mich geprägt“ über ihn dreht, in der insbesondere seine ungewöhnliche Doppelrolle als Künstler und Bergmann beleuchtet wird. Das ist zu dieser Zeit selten und nicht üblich, so dass er in beiden Welten eher als Sonderling gilt. 2016 verstirbt Many Szejstecki im Alter von 84 Jahren und hinterlässt ein umfangreiches künstlerisches Erbe, das hauptsächlich sein Sohn Roland Szejstecki seither verwaltet.
Denken Sie groß
„Zuerst war ich damit etwas überfordert“ berichtet der praktizierende Industriebuchbinder, der selbst nicht künstlerisch tätig ist, jedoch in der Kunst- und Kulturszene Gelsenkirchens gut vernetzt und aktiv ist. „Neben den bekannten großen Bildern, gibt es auch etliche Zeichnungen aus dem Bergbaualltag meines Vaters. Anfang der 60er trug er ständig ein kohlegeschwärztes Skizzenbuch mit sich herum, in dem er seine Kumpels in unzähligen Zeichnungen unter Tage festhielt. Während unserer Familienurlaube fertigte er dann zunehmend Landschafts- und Architekturzeichnungen mit Tusche an. Die räumlichen Möglichkeiten, die sich ihm in der werkstatt eröffneten, schöpfte er dann vollends aus. Wäre noch mehr Platz gewesen, hätte er seine Leinwände auch noch größer angefertigt“, erinnert sich Roland schmunzelnd. Sogar eine Stuhlkonstruktion hat er sich extra dafür gebaut, um nah am Bild „schweben“ zu können (siehe Beitragsbild).
Und auch sonst werkelt und baut Many fleißig an Konstruktionen und futuristisch anmutenden Ausstellungsformaten, wie dem „Panorama des Ruhrgebiets“. Er möchte auch für Nicht-Fachkundige ein Bergwerk mit seinen Ausdehnungen in die Tiefe verständlich machen. Seine Vision eines begehbaren, dreidimensional erlebbaren Kunstwerks stellt er sowohl vier Wochen lang in Herten, als auch im Kunstmuseum in Buer aus, um Sponsoren für die Umsetzung zu gewinnen. In der Tradition der Panoramabilder des 19. Jahrhunderts, die zur damaligen Zeit einen kulturellen Massentourismus auslösen, tüftelt er an einem Schaumodell aus Holz und Papier. Zusätzlich nutzt er Software, die er sich für die Perspektivberechnungen an seinem Commodore 64 speziell hat programmieren lassen. Alles, um die erdachte Fahrt vom Erdkern zum Firmament eindrucksvoll multimedial aufbereiten zu können. Innovativ und visionär – schon damals. Die geplante Verwirklichung auf Zeche Hugo wird leider nicht realisiert und das Drehbuch seines „Zentrum des Ruhrgebiets“ verschwindet in der Schublade.
Wie der Zufall es will
Durch einen glücklichen Zufall lernen sich Roland Szejstecki und der Kunsthistoriker und Autor Lukas Schepers 2020 kennen. Zu diesem Zeitpunkt noch in Hamburg studierend, aber mit Wurzeln in Gelsenkirchen, entdeckt Lukas bei einem Besuch seiner Tante und seines Onkels Radierungen mit den für Many typischen Netzstrukturen. „Als meine Verwandten mir erzählt haben, dass diese Bilder von einem ehemaligen Bergmann gemacht worden sind, passten die feinen Bilder und der grobe Beruf auf den ersten Blick überhaupt nicht zusammen. Das ist genau der Punkt, der mich neugierig gemacht hat.“, erinnert er sich an die Anfänge. Nach einiger Recherche kommt der Kontakt über den werkstatt e. V. zustande, in dem Manys Sohn ebenfalls Mitglied ist. Die beiden haben direkt einen guten Draht zueinander.
Back to the roots
Mittlerweile wohnt der Kunsthistoriker wieder in Gelsenkirchen und unterstützt Roland maßgeblich bei der Nachlassarbeit. „Lukas ist ein echtes Geschenk. Er hat mir schon so viele Dinge über meinen Vater erzählt, von denen ich bisher gar nichts gewußt habe. Das bringt mich ihm nochmal auf eine ganz andere Art und Weise näher. Ich vertraue voll und ganz Lukas‘ fachlicher Expertise und weiß, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Das ist viel wert“, weiß Roland Szejstecki als Kunstliebhaber, aber eben nicht Sachverständiger, sehr zu schätzen. Die beiden sind seitdem freundschaftlich verbunden, mit einer ehrlichen Motivation den Spirit von Many durch die Ausstellung seiner Werke weiterleben zu lassen.
Wie im Film
Die Nachlassarbeit weckte in den beiden Gelsenkirchenern auch schon detektivisches Gespür: Lange Zeit war das Bild „Unter dem Revier“ nicht mehr auffindbar. Das 4 x 2,20 m fassende Werk ging nach der Ausstellung Feuer & Flamme im Gasometer Oberhausen in den Besitz eines Architekten nach Berlin, dem die Darstellung damals sehr imponierte. Von dort wanderte es durch mehrere Ausstellungen in ganz Deutschland. Bei einem Abbau wurde die Leinwand beschädigt und schlummert seither eingerollt in einem Archiv, auf den Zeitpunkt seiner Restaurierung wartend. Als Lukas und Roland den aktuellen Eigentümer schließlich ausfindig machen können und ihm von ihrer Nachlassarbeit erzählen, verspricht dieser das Kunstwerk als Dauerleihgabe nach Gelsenkirchen zurückzugeben, falls sie es schaffen würden, eine Dauerausstellung in der Zeche Westerholt zu installieren.
Insbesondere solche Erlebnisse spornen die beiden natürlich noch mehr an, ihre Bemühungen zu verstärken, eine feste Bleibe für Manys Werke zu finden. Und damit sollen sie nicht alleine bleiben.
Da kennt jemand, der wen kennt
Das storyLab kiU ist ein Forschungsbereich der Fachhochschule Dortmund, angesiedelt in der ersten Etage des Dortmunder U. Auf einer Fläche von 600 m2 ermöglichen ein Film- und ein Tonstudio sowie mehrere digitale Arbeitsplätze die Produktion von hochwertigen 2D- , 3D- und Virtual-Reality-Anwendungen. An der Fachhochschule lernten sich Laurin Bürmann, Azziza El-Yabadri und Timo Sodenkamp während ihrer Studienzeit kennen und arbeiteten gemeinsam im storyLab an Projekten mit dem Schwerpunkt der Erforschung von Erzählstrategien im Zusammenhang mit neuen Technologien und Präsentationsformen. Unter anderem waren sie als bereits freischaffende 3D-Artists am beeindruckenden Fassadenmapping am Dortmunder U zur Museumsnacht beteiligt und zogen das Publikum mit einem audiovisuellen Erlebnis der Extraklasse in ihren Bann. Ein Puzzleteil bei der Anfertigung dieser XXL-Projektionen ist das sogenannte Geo-Mapping, das eine präzise, dreidimensionale Vermessung und Erfassung von z. B. Straßen, Gebäuden oder auch Kunstwerken ermöglicht.
Bei der Sichtung der Unterlagen zu „Das Panorama des Ruhrgebiets“ verknüpfte Lukas Schepers direkt die Vision von Many mit den Möglichkeiten des modernen Storytellings, das er von seiner Bekannten Azziza aus dem storyLab kiU kannte. Nach kurzem Austausch war klar, dass das Drehbuch von damals dazu prädestiniert war, mit moderner Technologie, den entsprechenden Mitteln sowie konkreten Projektmöglichkeiten endlich in die Realität umgesetzt zu werden.
Weitere Knotenpunkte
Roland Szejstecki ist nicht nur Mitglied im werkstatt e.V., sondern auch bei dersalon.ruhr e. V., der sich 2020 gründete und aktuell aus 26 Mitgliedern besteht, die sich ehrenamtlich im Bereich von Kunst- und Kulturveranstaltungen engagieren. Das Urban Art Festival RUbug (siehe auch isso. #80, Juni 2022), unter der Schirmherrschaft des Vereins, hauchte der Neuen Zeche Westerholt im Sommer letzten Jahres frisches Leben ein. Mit vereinten Kräften öffneten erstmals nach zehn Jahren die Pforten des alten Zechengeländes, um in und auf der ehemaligen Brache bunte Wandgemälde, Streetart-Pieces, Video-, Licht- und Klanginstallationen von mehr als 60 internationalen Künstler*innen zu präsentieren.
Auch für die programmatische Bespielung des Ortes zur ExtraSchicht in diesem Jahr zeichnet sich der Verein wieder verantwortlich. Die Vorstandsmitglieder Kathi Schmidt und Lukas Bachmann waren von der Idee in Manys letzter beruflicher Wirkungsstätte sein bisher nicht realisiertes Drehbuch als immersives Erlebnis zeigen zu können, sofort begeistert. Wo, wenn nicht auf Zeche Westerholt? Und welches Ereignis würde da besser passen als die ExtraSchicht, dem Kulturfestival, das aus der Idee geboren wurde, das industriekulturelle Erbe der Region sichtbar zu machen und gezielt miteinander zu vernetzen?
Ohne Kohle geht es nicht
Für die Idee konnten glücklicherweise Sponsoren gewonnen werden. „Was wir besonders bemerkenswert und toll finden“ wirft Kathi Schmidt ein, „ist, dass das Projekt sowohl von der Sparkasse Gelsenkirchen, als auch von der Sparkasse Vest aus Recklinghausen als Hauptsponsoren unterstützt wird“. Die Zeche Westerholt erstreckt sich nämlich über beide Stadtgebiete. Damit setzen die Sparkassen ein starkes und wichtiges Zeichen für städteübergeifende Zusammenarbeit.
Seit Zusicherung der finanziellen Mittel laufen die Vorbereitungen für den 24. Juni auf Hochtouren. Die Projektion mit dem Titel „More Many“, die perspektivisch genau auf den Raum zugeschnitten sein wird, nimmt Besucherinnen und Besucher mit auf eine besondere Reise, von der ich hier aber nicht zu viel verraten möchte. Spezielles Equipment, wie VR-Brillen oder Tablets sind für dieses Erlebnis nicht notwendig. Die innenliegende Location ist zudem ideal geschützt vor schwankenden Lichtverhältnissen und unbeständigem Wetter.
Wenn er das wüßte
Während wir die Location besichtigen und ich mir erklären lasse, wie die Projektion im Detail geplant ist, bekommt Lukas Schepers richtige Gänsehaut: „Es gibt so viele Referenzen und Anknüpfungspunkte in der Arbeitsweise von Many zu dem, was hier gerade umgesetzt wird. Er hat sich damals viel mit Perspektive und Zentralperspektive auseinandergesetzt, hat seine Bilder konstruiert und durchgerechnet. Wenn Many das jetzt sehen könnte… das wäre für den jetzt so, als ob sein Traum endlich zur Wirklichkeit werden würde.“
Mit seiner Begeisterung für Many, dem Tüftler und Vorausdenker, hat er seine Mitstreiter*innen bereits angesteckt. Auch Azziza, Laurin und Timo sprechen voller Bewunderung und mit Leuchten in den Augen über seine Ideen. Allen ist es ein Bedürfnis, dieses Projekt im Geiste des Visionärs bestmöglich darzubieten, um zu verdeutlichen, was für ein Potential diese Geschichte um Many herum birgt. Lukas Schepers bringt es nochmal auf den Punkt: „Es wäre wichtig, dass erkannt wird, welches kulturelle Kapital hier brach liegt, das eigentlich nur aktiviert werden muss.“
Damit nicht nach sechs Stunden ExtraSchicht der Many-Effekt verpufft, ist geplant, den Film zu weiteren Gelegenheiten zu zeigen. Der Wunsch bleibt bestehen, ein festes Domizil an dem Ort zu etablieren, wo der Bergmann und Künstler Szejstecki sein erstes Panoramabild der Zeche Westerholt noch im Auftrag des Bergwerksdirektors angefertigt hat. In unmittelbarer Nähe des Geländes steht sogar noch das ehemalige Wohnhaus der Familie, mit Blick auf den Turm der Zeche.
Wenn man jetzt die Augen schließt, kann man förmlich ein neues Netzwerk sehen, gesponnen aus der Geschichte von Many, dem Arbeiterkünstler, der durch sein Lebenswerk auch heute noch Menschen, Orte und Ereignisse miteinander verbindet. Und ganz ehrlich? Besser geht es doch gar nicht! Glück auf!
Weiterführende Links: werkstatt-ev.de/nachlass-many-szejstecki @nachlass.many.szejstecki (Instagram) dersalon.ruhr dortmunder-u.de/storylab-kiu neue-zeche-westerholt.de extraschicht.de |