Neues Licht in der freien Szene

AmVieh-Theater in Essen bietet Kunst, Performance und Begegnung

Ein Interview von Alexander Welp

Die freie Theaterszene bereichert seit jeher die Kulturlandschaft des Ruhrgebiets und begeistert das Publikum stets mit interessanten und qualitativ hochwertigen Inszenierungen. Produktionen wie die „Gelsenkirchener Passionsspiele“ oder „Luther“ wurden von mehr als zweitausend Zuschauerinnen gesehen und gefeiert. Doch gerade in Gelsenkirchen klagen Schauspielerinnen oftmals über schwierige Bedingungen. Ein Mangel an Spielstätten sowie zähe und schleppende Kommunikation mit der Stadt sind Kritikpunkte, die in der freien Szene immer wieder genannt werden.
Natürlich, Veranstaltungsorte wie der Kulturraum „die flora“, das neue BonniMax in Gelsenkirchen-Hassel oder der stadt.bau.raum bemühen sich, Kunst und Kultur am Leben zu erhalten, doch neidische Blicke der Gelsenkirchener Künstlerinnen in Richtung benachbarter Städte bleiben nicht aus – vor allem, wenn Off-Bühnen wie das Rottstraße 5 Theater in Bochum oder der Ringlokschuppen in Mülheim wie wahre Institutionen behandelt werden.

Dass es auch anders laufen kann, beweisen Eva Zitta und Dominik Hertrich mit der Gründung des AmVieh-Theaters in Essen. Beim Besuch im gemütlichen Theater am Viehofer Platz, welches Raum für ungefähr 40 Zuschauerinnen bietet, berichten die Regisseurin und der Schauspieler über die Vorteile eines eigenen Theaters, der Idee hinter dem Spielort und den Austausch mit dem Kulturamt.

v.l.: Eva Zitta, Dominik Hertrich (Foto: Ralf Nattermann)

Frau Zitta, Herr Hertrich, fangen wir ganz vorne an: Woher stammt die Idee für das AmVieh-Theater?

Dominik Hertrich: Eva und ich haben zusammen an der Produktion „Eine Sommernacht“ gearbeitet. In kürzester Zeit und unter schweren Bedingungen haben wir ein Stück auf die Beine gestellt, was sich inhaltlich und in der Zusammenarbeit sehr gut angefühlt hat – das wurde uns anschließend vom Publikum auch so gespiegelt. Aus dieser Kooperation ist der Wunsch entstanden, weiterhin zusammenzuarbeiten. Zunächst haben wir uns deshalb einen Probenraum angemietet. Uns wurde aber schnell klar: Wir wollen mehr! Wir wollten intensiver, strukturierter und nachhaltiger arbeiten und proben. Das geht natürlich nur mit einer eigenen Spielstätte. Als freie Spielgruppe kämpft man so oft um Termine und Auftrittsmöglichkeiten auf den Off-Bühnen – mit einem eigenen Theater fällt das natürlich weg. Im August 2020 hatte Eva mehrere Locations ausfindig gemacht, die daraufhin besichtigt wurden.

Eva Zitta: Natürlich ergab sich das eine aus dem anderen: Zunächst haben wir mit „DispoDispo!“ unseren Verein gegründet, um mehr Leute aus dem künstlerischen Bereich zusammenzubringen und weiterhin produzieren zu können. Aber ja, wir haben schnell gemerkt, dass wir einen festen Raum benötigen, wenn wir die Füße auf den Boden bekommen wollen. Mit einem eigenen Spielort sind die Voraussetzungen natürlich nicht weniger anspruchsvoll, aber als freie Theatergruppe ist die Situation natürlich noch prekärer, wenn man die Konditionen bei Gastspielen im Kopf behalten muss – man spielt ja nirgendwo umsonst!

DH: Neben der Freude an der Arbeit, die man mit einem eigenen Theater sogar noch einmal ganz neu entdeckt, war es natürlich auch ein Ziel, dass nicht nur unser Verein eine Spielstätte bekommt, sondern auch andere Gruppen aus der freien Szene. So können neue Netzwerke und Kooperationen entstehen, die vorher vielleicht nicht möglich gewesen wären.

Wann war denn klar, dass es dieser Ort am Viehofer Platz werden soll?

EZ: Zunächst haben wir uns einige Räume im Essener Süden angesehen, die auch in Ordnung waren, aber nicht so prädestiniert für eine Nutzung als Theater. City-Nord hat da eine ganz andere Struktur: Viele Ladenlokale sind hier in der Hand der Allbau GmbH, die ein totales Interesse daran hat, das Gesicht das Viertels zu verändern und Kultur zu etablieren. Wir wurden hier mit offenen Armen empfangen, und uns wurde viel ermöglicht.

DH: Als wir im Oktober 2020 hier eingezogen sind, stand das Ladenlokal vorher leer und war wie ein Rohbau. Es gab keine Heizung, keinen Durchlauferhitzer, kein Licht und keine Elektrik. Diese Grundrenovierung ging komplett von uns selbst aus.

EZ: Zumindest aus unternehmerischer Sicht. Wo es möglich war, haben wir natürlich auch selbst Hand angelegt. (lacht)

DH: Aber um auf die Frage zurückzukommen: Wenn ich einen Raum betrete und entscheiden muss, ob ich dort wohnen oder arbeiten möchte, entwickelt sich nach zwei bis drei Minuten ein Bauchgefühl, ob es das Richtige ist oder nicht. Hier war es ebenfalls so. Außerdem hat es Eva geschafft, eine Atmosphäre zu schaffen, mit der ich mich vollkommen wohl fühle.

EZ: Mir ging es ähnlich. Nach meiner Tour kannte ich alle Leerstände des Viertels. Für unsere Vorstellung der Nutzung ist dieser Raum aber ideal gewesen. Draußen auf dem Plakat steht ja: „Kunst, Kultur, Kaffee“. Die Ursprungsidee, und vielleicht kommen wir da auch noch hin, war ja, dass es auch noch ein offenes Café geben soll. Momentan nutzen wir den Bereich nebenan noch als eine Art Lagerraum – ganz pragmatisch. Theoretisch kann man die Fläche aber als Café oder Workshop-Raum nutzen. Im Moment sind wir davon allerdings noch etwas entfernt. Personell und monetär muss sich das erst entwickeln.

DH: Was aber jetzt schon gegeben ist: Wir haben natürlich schon eine Bar, wo es für unser Publikum vor oder nach Theaterveranstaltungen Getränke gibt. Das wird auch sehr herzlich angenommen. Nach den Veranstaltungen bleiben die Leute gerne, trinken etwas und tauschen sich über das Stück aus – es findet eine Begegnung statt!

Eva Zitta (Foto: Ralf Nattermann)

Mit welchem Stück feierte das AmVieh-Theater seine Premiere?

EZ: Es kommt drauf an, wie man zählt! Die Eröffnung fand dieses Jahr im Juli statt und war eine Art inszenierter Rundgang. Diese Rundgänge waren für 10 Zuschauer*innen angedacht und an diesem Wochenende komplett durchgetaktet – sechs Mal pro Tag!

DH: Man muss sich das wie einen inszenierten Parkour vorstellen. In einer Viertelstunde durchlief man mehrere Stationen. Angefangen mit der Begrüßung durch einen Butler über die Begegnung mit einem „Theater Geist“, eine Art Animatronic-Figur, bis hin zu einer musikalischen Huldigung des Ortes und allen Mitwirkenden auf der Bühne. Es war unheimlich anspruchsvoll, hat aber gleichzeitig großen Spaß gemacht!

Kurzer Einwurf: So, wie Sie beide über das Theater und die gesamte Thematik sprechen, merkt man sofort, wie viel Lust und Engagement Sie mitbringen!

EZ: Es ist schön, dass Ihnen das auffällt. Ich merke immer wieder, wie viel Freude ich daran habe, wenn ich über das spreche, was bisher schon stattgefunden hat. Aber um Tacheles zu reden: Ich finde, es ist momentan richtig hartes Brot hier. Es am Laufen zu halten, sich darum zu kümmern, dass die Struktur steht, dass die Menschen hier proben können – das alles ist manchmal sehr anstrengend. Wir müssen natürlich auch auf die Finanzen achten. Nicht nur der Austausch unter den Kreativen ist wichtig, sondern auch das Netzwerk mit der Stadt und unterstützenden Strukturen. Wir sind zwei Menschen, die mit diesem Theater eine GbR gegründet haben und tragen das volle Risiko. Das ist schon eine Herausforderung.

Nichtsdestotrotz, Sie fühlen sich hier sehr gewollt und bekommen wenig Steine in den Weg gelegt, nicht wahr? In Gelsenkirchen läuft es für die freie Szene oftmals nicht so rosig.

EZ: Das ist immer eine Vergleichsfrage. Klar, wir fühlen uns sehr willkommen, und wenn es schon etwas wert ist, dass man keine Steine in den Weg gelegt bekommt, dann sagt das schon etwas über die Strukturen andernorts aus. Die Stadt Essen zeigt sich bei diesem Thema gesprächsbereit und kooperativ, wie ich vor ein paar Wochen erfahren durfte.

DH: Aus meiner Perspektive ist das Kulturamt in Essen schon ziemlich engagiert und sehr nah am Geschehen – die Leiterin des Kulturamts war tatsächlich schon als Gast hier vor Ort! Mittelfristig benötigen wir natürlich trotzdem eine institutionelle Förderung, um diesen Kulturort aufrecht zu erhalten.

Dominik Hertrich (Foto: Ralf Nattermann)

Neben „DispoDispo!“ soll das AmVieh-Theater auch ein Ort für andere Gruppen aus der freien Szene sein. Welche Ensembles waren bisher hier?

EZ: Wir waren mit vier Acts ein Standort für das „Blaue Rauschen“. (Festival für elektronische Musik und digitale Experimente; Anm. d. Red.) Anfang Dezember kommt mit „Oleanna – Ein Machtspiel“ die Gruppe only connect! für ein Gastspiel zu uns.

DH: Mir ist bei dem Thema der Blick in die Zukunft wichtiger. Im neuen Jahr sollen neben Theaterproduktionen auch Musikveranstaltungen stattfinden. Konzerte mit Bands sind hier ja ebenfalls möglich. Kunst und Kultur soll hier in vielen Formen stattfinden. Dazu könnten natürlich auch Ausstellungen zählen.

Ist Ihnen bei der Auswahl der Künstler*innen etwas besonders wichtig?

EZ: Ich muss nicht damit einverstanden sein, was ich auf der Bühne sehe, wenn ich andere Künstler*innen einlade. Allerdings muss ich mit dem Level der Auseinandersetzung und der handwerklichen Professionalität zurechtkommen. Der Stil einer Aufführung muss für unseren Ort passen.

DH: Das unterschreibe ich exakt so! (lacht) Mir ist zudem der persönliche Kontakt wichtig. Ich muss merken: „Aha, da ist ein Engagement für die Sache vorhanden!“ Der Draht auf einer menschlichen Ebene sollte gegeben sein.

„Mein Herz gehört Dir“ – Schlagersänger Böhmer auf Live-Tournee im AmVieh-Theater (Foto: Uwe Faltermeier)

Manch einer würde behaupten: „Ein neues Theater während einer Pandemie gründen? Ganz schön mutig!“ Gab es vorab Bedenken?

DH: In meinem Freundes- und Bekanntenkreis weiß sowieso jede*r: Was ich mir in den Kopf setze, ziehe ich auch durch! (lacht) Nein, für mich war es trotz der angespannten Situation der richtige Moment. Mich haben das Ladenlokal und die Idee dahinter von Anfang an überzeugt!

EZ: Ich habe ein persönliches Risikoempfinden, welches wohl relativ unaufgeregt ist, zumindest was die Gründung eines Theaters aus unternehmerischer Perspektive betrifft. Obwohl ich die Pandemie natürlich in keinster Weise unterschätze, war der Zeitpunkt für uns der richtige. Das AmVieh-Theater ist klein genug, dass uns die ganzen Anpassungen für große Veranstaltungen bisher nicht betrafen. Abgesehen davon machen wir natürlich all das, was andere Theater auch tun. Stichpunkt G-Regelungen.

Zum Abschluss: Was macht das AmVieh-Theater so besonders?

EZ: Das Erlebnis, das die Menschen hier bekommen, wird von nahbaren Kontakten getragen. Hier bekommt man etwas geboten, was mit einer großen Ernsthaftigkeit auf die Beine gestellt wurde. Eine Durchlässigkeit vom Kulturgeschehen und der damit verbundene Austausch werden bei uns sehr groß geschrieben!

Vielen Dank für dieses interessante Gespräch!

AmVhieh-Theater
Viehofer Platz 19, 45127 Essen
www.amvieh-theater.com

Titelbild: Elisa Reining und Larissa Bischoff während der Lesung „START CRYING YOUR HEARTS OUT“

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