Rock, Glamour und große Gefühle

Hedwig and The Angry Inch bringen das Musiktheater zum Beben

Eine Rezension von Alexander Welp

Rauchschwaden auf der Bühne, Spot auf die Band, lange Gitarrensoli und das unbeschreibliche Wir-Gefühl, wenn man einen unwiederholbaren Moment miterlebt – Rockkonzerte haben dieses gewisse Etwas, diesen knisternden Moment, Teil etwas Größerem zu sein. Und – oh wow! – kommt „Hedwig and The Angry Inch“ diesem Erlebnis nahe!

Mit Mini-Rock, Netzstrümpfen und schrillem Make-Up betritt Hedwig die Bühne und zeigt Band und Zuschauer*innen vom ersten Moment an, wo es lang geht. Zielstrebig, laut und fernab aller Fesseln des Spießbürgertums präsentiert sich die Frontfrau – zu gut, um nur einen Augenblick wegzuschauen. Dabei handelt es sich bei Hedwig doch eigentlich um eine Figur mit schwerem Schicksal: In Ostberlin als Hansel geboren, lässt er sich für die große Liebe zur Frau operieren. Doch bei der OP geht etwas schief und es bleibt ein „angry inch“, ein „wütender Zoll“ zurück. Dieser körperliche Makel lässt Hedwig fortan zwischen den Geschlechtern schweben. Schwierige Verhältnisse zu ihrer Mutter und ihrem neuen Geliebten, für den sie Songs schreibt und ihn somit weltberühmt macht, nagen am Gemüt der talentierten Musikerin. Stets auf der Suche nach ihrem wahren Ich tourt sie fortan mit ihrer Band „The Angry Inch“ – wie auch sonst? – durch kleinere Nachtklubs und gibt ihre Songs zum Besten.

Das Original, welches von John Cameron Mitchell und Stephen Trask 1998 als Off-Broadway-Stück Premiere feierte, ist wie geschaffen für das Kleine Haus des Musiktheaters. Innige Atmosphäre, direkter Bezug zum Publikum und das Gefühl ein wahrhaftiges Rockkonzert mitzuerleben – all das passt hervorragend zur schmaleren Bühne.


Generell: Carsten Kirchmeier beweist ein glückliches Händchen, was die Inszenierung betrifft: Die gut anderthalbstündige Vorstellung des Musicals fühlt sich eher wie ein Theaterstück an, das mit einem Rockkonzert verschmilzt. Längere Monologe Hedwigs münden in Songs voller Energie und Emotion. Tragische Erlebnisse in ihrer Vergangenheit werden mit sanfteren Rock-Balladen unterstrichen. Musik und Theater werden eins und untermauern im Subtext auf geniale Art und Weise die beiden Seiten einer Medaille, die Suche nach der eigenen Identität.

Oft nur in zweiter Reihe – Hedwigs Geliebter Yitzhak (v.l.: Nina Janke, Alex Melcher)

Alex Melcher als Hedwig ist eine Wucht! Der Musical-Darsteller schafft es, sowohl die zerbrechliche Seite Hedwigs als auch ihren unbändigen Drang nach Anerkennung glaubwürdig herüberzubringen. Stimmlich rau und wütend, dann doch wieder lieblich und sentimental – jeder einzelne Song geht sofort ins Ohr und zeigt Melchers Facettenreichtum. Unterstützt wird er von Nina Janke als Yitzhak, dem neuesten Geliebten Hedwigs. Janke bekommt dramaturgisch zwar nicht allzu viel zu tun, doch wenn ihre Rolle gefordert wird, ist sie auf den Punkt genau. Absolutes Highlight ist dabei ihre Interpretation von Whitney Houstons Klassiker „I will always love you“.

Abgerundet wird der pompöse Abend durch eine glänzend aufgelegte Live-Band, die einen herrlichen Glam-Rock Sound mit Stilen aus dem Heavy Metal verbindet – Skid Row trifft auf die Punkband Misfits! Die stehenden Ovationen haben sich alle Darsteller*innen zum Schluss redlich verdient.

Termine:
Sa 09. April 2022 – 19:30 Uhr
So 10. April 2022 – 18:00 Uhr
Sa 07. Mai 2022 – 19:30 Uhr
So 08. Mai 2022 – 18:00 Uhr

Tickets:
25 – 29 €

Musiktheater im Revier
Kennedyplatz, 45881 GE-Schalke

www.musiktheater-im-revier.de

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