Pilzkultur am Synthie

Im Namen des Pilzes

Wir befinden uns in der offiziellen Eröffnung der zweiten Phase des „Healing Complex“. In unmittelbarer Nähe der Pulsader von Erle, an der Cranger Straße 338-342, direkt hinter dem Café Zipper. Hier beherbergt die ehemalige St. Bonifatius-Kirche seit letztem Jahr das Projekt „Healing Complex“, das von den Urbanen Künsten Ruhr betrieben wird und von Künstlerin Irena Haiduk initiiert wurde (siehe auch isso. #81, S. 18).

Workshops, Ferienprogramm und Langzeitprojekte stehen auch in diesem Jahr auf dem Plan, mit dem Hintergrund dem profanierten Kirchengebäude einen neuen Zweck zuzuführen, der insbesondere der umliegenden Nachbarschaft als Ort der Begegnung und des Austausches dienen soll. Und natürlich auch alle Interessierten willkommen heißt!

Britta Peters, als künstlerische Leitung bei Urbane Künste Ruhr, läutete am Samstag, den 25. März die nächste Schaffens­phase ein und begrüßte viele Neugierige zum Projektauftakt, der im Zeichen von Ökonomie und Ressourcenschonung steht.

Pilzköpfe in Erle

Startete man im letzten Jahr mit Fokus auf dem Ofen, der auch noch immer ein zentrales Element in der außergewöhnlichen Location darstellt, entwickelt sich das Projekt um die „Feuerstelle“ herum weiter und spinnt buchstäblich seine Fäden. Nach dem Vorbild der Pilznetzwerke, die sich aus Lebensnotwendigkeit untereinander austauschen – sowohl mit Informationen als auch mit Nährstoffen – lautet das aktuelle Thema  „Myconomie“, einer Wortkreation aus „Mycel“ (Pilzgeflecht) und „Ökonomie“.

What the fungi?

Im Vorfeld präparierten Helfer*innen diverse Zuchtboxen mit Pilzkulturen, die unter Rotlicht und fachkundiger Betreuung nun an der Cranger Straße wachsen und gedeihen. 

Jeder und jede hatte somit zum Zeitpunkt der Wiedereröffnung bereits die Möglichkeit reife Champignons zu ernten und diese in einem eigens gestempelten Tütchen mitzunehmen oder direkt frisch geschnitten an die Backstube am Veranstaltungsort weiterzugeben, die hervorragende Pizza daraus zauberte.


Sammeltütchen mit dem eigens erstellten Pilzlogo stempeln, Pilz-Anhänger umhängen und los geht  die Ernte! Die Pflege und  Ernte ist fester Bestandteil  der zweiten Phase des „Healing Complex” und ist immer zu den Öffnungszeiten möglich. 

Eine Ecke mit Sitzkissen, bestückt mit Literatur rund um den Fungi-Kosmos, ist im hinteren Teil des Gebäudes eingerichtet, so dass Wissbegierige sich in die Tiefen der Mycel-Netzwerke einlesen können. Fotografien von Clara Schmidt komplettieren diese Szenerie. In ihrem Düsseldorfer Labor myko:nect, das auch gleichzeitig eine Galerie ist, züchtet sie Heil- und Speisepilze und fertigt während ihrer Studien perspektivisch hochwertige Nahaufnahmen ihrer Zöglinge an. Außerdem erklärt sie in Workshops, wie der Anbau unter den Aspekten nachhaltiger und möglichst energieeffizienter Methoden gelingen kann. Eine spannende Einführung in die Welt der Pilze gab sie auch beim Re-Opening und begeisterte die Besucher*innen mit ihrem Detailwissen.

Die Highlights des Tages bildeten ohne Zweifel die Performances der Künstlerinnen Margo Zālīte und Burçin Keskin: Während einer Tee-Zeremonie, bei der ein Heißgetränk, aufgebrüht mit dem gesundheitsfördernden Chaga-Pilz, an alle Anwesenden verteilt wurde, weihte Margo Zālīte das Auditorium in einige Gebräuche ihres Heimatlandes Lettland ein. Eine der Anekdoten bezog sich auf die Pilz-Obsession in dem baltischen Staat, in dem kein sportliches Großereignis (wie z. B. die WM) gegen den vermeintlich schönsten Pilzfund eine Schnitte in den sozialen Medien haben kann. Das ganze Netz sei während der Pilzsaison voll von stolz präsentierten Fruchtkörpern, versicherte die Performerin. 

Sie referierte über die überragenden Eigenschaften der Mycel-Netzwerke, die sich untereinander austauschen und komplexe Lösungen für Probleme finden, um ihr Überleben zu sichern. Und an denen sich die menschliche Spezies ein Beispiel nehmen kann. 

Synthie statt Synthese

Musikalisch begleitet wurde sie von den mitgereisten Schwammstars, die verwurzelt auf Nährstoffböden, in praktischen Rollwagen am Ort des Geschehens behutsam an Sensoren angeschlossen ihren Gesang erklingen ließen. 

Die bioelektrischen Signale der Organismen werden dabei mittels angehefteter Sensoren aufgefangen, über einen Synthesizer moduliert und wiedergegeben. Der „Gesang der Pilze“, der eher als abstrakt beschrieben werden kann, erinnert dabei an einen Klangteppich aus 56k-Modems. 

Nach zeremoniellem Tee, reichlich Austausch und Ausprobieren wurde der Abend durch die Performance MUSHROOM NANO OPERA mit Sängerin Burçin Keskin und Margo Zālīte zusammen mit dem Pilzensemble, abgerundet. 

Die zweite Phase des Projekts birgt eine Menge Potential und lädt bereits ab dem 11.4. zur Ferienwoche für Kinder ein, sowie im Mai zum Mycel-Bankett. Außerdem ist es möglich, zu den üblichen Öffnungszeiten (Do 14-18 Uhr, Fr-So 11-18 Uhr) vorbeizuschauen, um z. B. Champignons zu ernten. Wer ein wenig Zeit erübrigt, um in den Zuchtkisten für gutes Klima zu sorgen, bekommt sogar einen Pilzanhänger. Dieser ist gleichzeitig auch ein Token, das als Währung bei anderen Ausstellungsorten des Ruhr Ding: Schlaf in Mülheim, Witten und Essen eingesetzt werden kann, um neue wechselseitige Verknüpfungen voranzutreiben und zirkulierende Ökonomie sichtbar zu machen.

Neugierig, was sich da Abgefahrenes in Erle tut? Oder Bock auf Pizza mit frischen Pilzen? Details zum Projekt und weitere aktuelle Termine erfahrt ihr unter: 

https://urbanekuensteruhr.de/de/project/healing-complex-2018-ongoing

https://www.instagram.com/urbanekuensteruhr/

https://www.facebook.com/urbanekuensteruhr

Myconomie
Pilze dienen den Menschen als Nahrungs-, Heil- oder Rauschmittel, sie sind sesshaft wie Pflanzen, können jedoch keine Photosynthese betreiben. Daher müssen sie sich wie Tiere ernähren, indem sie organische Substanzen aufnehmen und durch Enzyme verdauen. Im Reich der Lebewesen bilden die Fungi eine eigene Kategorie: Sie sind weder Pflanzen (Plantae) noch Tiere (Animalia), sind aber mit beiden verwandt. Wie für uns Menschen sind Kommunikation und Kooperation für ihre Organisation wesentlich: Sie leben oft in Symbiosen, die über das Mycel gebildet werden – das komplexe, meist unterirdische Netzwerk von Pilzfäden, aus dem dann oberirdisch Pilze sprießen können. Das Mycel verteilt lebenswichtige Nährstoffe im Boden und wird auch als „Klebstoff der Natur“ bezeichnet, weil es verrottendes Material abbaut und zusammenhält. Zugleich schafft es Verbindungen, wodurch eine eigene Ökonomie entsteht: Sie bilden das soziale Netzwerk zwischen den unterschiedlichen Organismen.

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